Die Scherenfrau
mehr.«
Ich flog zu ihr. Sie hatte die Tür offen gelassen. Als ich eintrat, fand ich sie, wie sie dem Regen zuschaute, nackt von der Taille aufwärts, nur in Jeans und barfuss. Als sie meine Anwesenheit spürte, drehte sie sich zu mir um, und ich sah ihre Brüste, ihre dunklen Brustwarzen, die sich vor Kälte aufgerichtet hatten. Ich kannte sie so nicht, vielleicht glich sie meinen Fantasien beim einsamen Sex, aber so, so nah und so nackt …
»Himmel, Rosario, du holst dir den Tod«, sagte ich zu ihr.
»Mein Kumpel«, sagte sie zu mir und warf sich mir in die Arme, wie immer, wenn sie sich unrettbar verloren fühlte.
Ich hängte ihr etwas um, brachte sie in ihr Bett, deckte sie mit ihren Decken zu, mit meiner Hand befühlte ich ihre Wangen nach Fieber, ich strich ihr das Haar zurück, ich sprach zärtlich auf sie ein, in diesem tuntigen Tonfall, den sie so hasste, aber den ich nicht unterdrücken konnte, wenn ich sie so sah, so niedergeschlagen, kraftlos und ausgemergelt, aber vor allem so allein und nah bei mir.
»Ich hab die Schnauze voll, Kumpel, von allem.« Sie brachte kaum einen Ton heraus.
»Ich kümmer mich um dich, Rosario.«
»Ich schmeiß alles hin, Kumpel, alles. Ich hör auf mit diesem mörderischen, bescheuerten Leben, ich mach Schluss mit ihnen, ich hör auf, schlecht zu sein, Kumpel.«
»Du bist nicht schlecht, Rosario«, sagte ich überzeugt.
»Doch, Kumpel, ich bin schlecht, du weißt es.«
Ich bat sie, nicht weiterzureden, sich auszuruhen, zu schlafen. Sie schloss gehorsam die Augen, und als ich sie so blass, so ausgezehrt, so leblos liegen sah, kam ich nicht umhin, sie mir tot vorzustellen. Ein heftiger Schauer durchfuhr mich, der mich ihre Hände drücken ließ. Dann beugte ich mich über sie und gab ihr ohne Hemmungen einen Kuss auf die Stirn.
»Ich kümmer mich um dich, Rosario.«
Mit einem Seufzer warf sie einen Teil ihrer Erschöpfung ab. Ich spürte, dass sie frische Luft schöpfte, die gute Luft, von der sie träumte, von ihren neuen Vorsätzen, ich spürte, wie sie meine Hand losließ und ausruhte, ich deckte sie bis zum Kinn zu, schloss die Vorhänge, ging leise zur Tür, aber ich brachte es nicht über mich, sie allein zu lassen. Ich setzte mich neben sie und schaute sie an.
»Ich liebe dich so sehr, Rosario«, sagte ich mit lauter Stimme zu ihr, doch in der Gewissheit, dass sie mich in ihrem tiefen Schlummer nicht mehr hörte.
Während der folgenden Tage blieb ich bei ihr und wachte über ihren Zustand. Es waren äußerst schwierige Tage. Rosario stürzte in eine bodenlose Depression und riss mich mit. Vergeblich versuchte sie, die Finger von den Drogen zu lassen. Nachts musste ich losziehen, getrieben von ihrer Verzweiflung, um ihr in den finstersten Löchern etwas zu besorgen. Aber am darauffolgenden Morgen machte sie sich Vorwürfe wegen des Rückfalls, verfluchte das Leben, das sie führte, und schwor erneut, sich zu bessern.
»Ich weiß nicht, was besser wäre, zu sterben oder so weiterzumachen.«
»Red keinen Blödsinn, Rosario.«
»Ich mein es ernst, Kumpel, es ist eine ziemlich schwere Entscheidung.«
»Dann mach eben weiter so.«
Ich war überzeugt, dass nicht die Drogen allein an ihrer Angst schuld waren. Es waren die Umstände, die sie mit ihnen in Kontakt gebracht hatten, die Rosario genau auf den Grund dessen hinabstießen, wovon sie bereits genug hatte. Die Droge war das letzte Mittel, um den Schmerz zu lindern, den ihr das Leben bereits zugefügt hatte. Ein trügerischer Schutzzaun, den man am Rand des Abgrunds errichtet.
»Es muss doch einen Ausweg geben«, sagte ich zu ihr. »Das berühmte Licht am Ende des Tunnels.«
»Das ändert nichts.«
»Ich verstehe dich nicht, Rosario.«
»Das berühmte Licht befördert nichts Neues zu Tage. Nichts, was anders wäre als das, was beim Reinfahren in den Tunnel schon da ist.«
Sieht man genauer hin, dann stimmt es. Der Unterschied zwischen der Landschaft am Anfang und der am Ende ist nicht besonders groß. Bleibt also die Lüge als einziger Antrieb.
»Wenn der Tunnel so lang ist wie deiner, dann kannst du bei Regen hineinfahren und bei Sonnenschein herauskommen. Das ist bestimmt möglich.«
»Und wer garantiert mir, Kumpel, dass es nicht wieder regnet?«
Das erinnerte mich an die störrischen Wale, die nicht ins Meer zurückkehren wollen. Je mehr ich versuchte, sie ans Licht zu zerren, desto stärker versuchte sie mithilfe meines Gewichts zu versinken, als täte sie es mit voller Absicht. Schließlich
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