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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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wissen. »Mein Herr, Herr Doktor, Herr …«
    »Wie du Lust hast«, sagte sie zuckersüß.
    »Und wenn sie mich umbringen?«, fragte ich betäubt von ihrer Zärtlichkeit.
    »Dann begraben wir dich«, antwortete Emilio halb tot vor Lachen.
    Sie presste meine Hand noch fester und schaute mich noch liebevoller an, und ihre mörderische Zunge erschien wieder, diesmal ein wenig feuchter.
    »Wenn sie dich umbringen, dann bring ich erst sie um, und danach mich selbst.«
     
    »Ihn« lernte ich gar nicht kennen. Zu meinem Glück scheiterte der Auftrag. Ein Versuch, bei dem ich nicht einmal an der Pförtnerloge des Gebäudes vorbeikam, in dem sie sich angeblich verschanzten, denn man hatte bereits zur Jagd auf sie geblasen. Ich erreichte lediglich, dass mich fünf vermummte Ungeheuer in eine Garage schleppten, um mich, eingeschüchtert wie ich war von ihren Waffen, den Anschuldigungen und ihrem finsteren Lachen, einem einstündigen Verhör zu unterziehen. Aber das Schlimmste war, dass alles umsonst geschah. Als ich zu Rosario und Emilio zurückkehrte und mich vor lauter Kniezittern kaum auf den Beinen halten konnte, waren sie noch abgedrehter und merkwürdiger als vorher.
    »Was für ‘ne Kohle?«, fragte Emilio.
    »Wo kommst du denn her?«, wollte Rosario wissen.
    »Du bist wohl völlig durchgeknallt«, sagte er.
    »Du bist nicht mehr zu retten«, sagte sie, und sie sprachen das Thema nicht mehr an.
    Rosario hatte Recht mit ihrer Diagnose. Mir, nur mir konnte es einfallen, auf diese beiden kaputten Typen zu hören, die nicht einmal mehr wussten, an welchem Ort auf diesem Planeten sie sich befanden. »Wenn du mich nur ein bisschen lieb hast …«, dachte ich, »sie hätten mich umbringen können, und diese beiden hätte niemand von ihrer Wolke runtergeholt«, dachte ich wütend, »ich bin wirklich nicht mehr zu retten«, dachte ich wütend und traurig.

11
     
    Während ich hier im Krankenhaus auf sie warte, Erinnerungen an sie wachrufe, sogar Pläne schmiede und mir Sätze zurechtlege für den Moment, in dem sie erwacht, habe ich das Gefühl, dass sich gar nichts geändert hat, dass diese Jahre, die ich ohne sie verbracht habe, gar nicht stattgefunden haben und dass die Zeit einfach an den letzten Augenblick anknüpft, den ich mit Rosario Tijeras verbracht hatte. Dieser letzte Moment, in dem ich mich im Gegensatz zu anderen nicht verabschiedete. Mehrmals hatte ich bereits »Adiós, Rosario« gesagt, besiegt von dem Frust, sie nicht bekommen zu können. Aber jedem »Adiós« folgte das »Ich bin wieder da« und in meinem Inneren die endlosen »Ich schaffe es nicht«. Während ich hier sitze, merke ich, dass dieses abschließende Adiós auch nicht das letzte war. Ich bin wieder da, wieder zu ihren Füßen, wo ich mich ihrem Willen beuge, wo ich wieder darüber nachdenke, wie viele Male noch fehlen bis zum endgültigen und letzten Mal. Ich würde gerne gehen, sie wie so oft zurücklassen. Ich habe genug getan, ich habe mein Soll erfüllt, sie ist in guten Händen, in den einzigen, die etwas für sie tun können, es hat gar keinen Sinn, dass ich hier bleibe und von vergangenen Zeiten träume. Emilio sollte bei ihr sein, er hat eine viel größere Verpflichtung. Aber ich, was zum Teufel tue ich hier? »Kumpel«, erinnere ich mich. »Mein Kumpel.« Meine Füße gehorchen meinen Absichten nicht. Mühsam erhebe ich mich, nur um festzustellen, dass sich nichts geändert hat. Die Krankenschwester, der Flur, die Morgendämmerung, der arme Alte, der schlummert, die Wanduhr mit ihren Zeigern auf halb fünf. Hinter dem Fenster verdeckt der Frühnebel die Berge, verwischt die Weihnachtskrippe und Rosarios hoch gelegenes Viertel. Wahrscheinlich lässt er heute auch keine Sonne durch und beschert uns den einen oder anderen Regenschauer, solche, die den Schlamm und die Steine mitreißen und den Eindruck erwecken, es hätte Scheiße geregnet.
    »Ich mag es nicht, wenns regnet«, hatte Rosario einmal zu mir gesagt.
    »Ich auch nicht.« Es sei festgestellt, dass ich das nicht sagte, um ihr nach dem Mund zu reden.
    »Man könnte meinen, die Toten da oben sind am Heulen, nicht wahr?«, sagte sie.
    Nach der Drogenphase in dem Häuschen bekam ich sie teilweise zurück. Emilio hatte sie in ihrem Apartment abgesetzt und rief mich an, um mir Bescheid zu sagen. Er war in keiner besseren Verfassung, aber wenigstens gab es einen Ort, an den er gehen konnte und sich nicht allein fühlen musste.
    »Kümmer dich um sie«, sagte er zu mir. »Ich kann nicht

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