Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
Vom Netzwerk:
unerklärlicher Klapse auf den Rücken, obwohl sein Gesicht keine Wiedersehensfreude zeigte, schon eher Furcht. Ich erfuhr nicht, ob wegen mir oder wegen dem, was sie durchmachten, aber die Angst hatte ihn ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. In diesem Augenblick verstand ich, wie es für meine Familie gewesen sein musste, als sie mich reinkommen sah. So, wie ich es mit Rosario tat, hatten auch sie fragend meinen Namen ausgesprochen, als hätten sie ihren Sohn nicht erkannt. Diesmal kam Emilio mit der Geschichte an, er hätte einen Typen umgebracht. Sie versuchte danach klarzustellen, dass nicht er es gewesen war, sondern sie. Er sagte dann, dass es eigentlich beide gewesen waren.
    »Ich wars, Kumpel«, beharrte Rosario. »Ich bin es, die tötet.«
    Ich konnte nicht herausfinden, ob es stimmte. Wenn das Verbrechen nicht sowieso einfach das Ergebnis ihrer Wahnvorstellungen, ihrer Drogenexzesse und ihrer Zurückgezogenheit war. Ich war mir außerdem nicht sicher, ob sie sich auf den Mann bezogen, der uns mit dem Wagen aufgefahren war. Vielleicht hatte sie ihn tatsächlich getötet, oder vielleicht war es ein anderer. Keine Ahnung, das Durcheinander und Chaos ihrer Beschreibungen war so schlimm, dass ich niemals wirklich erfuhr, was während meiner Abwesenheit geschehen war. Als sie sich wieder eingekriegt hatten, fragte ich sie nach dem Zwischenfall, aber keiner von beiden konnte sich an irgendetwas erinnern. Nur mit Mühe hatten sie eine ungefähre Vorstellung von der Hölle, die wir in dem Häuschen durchgestanden hatten.
    Ich bereute, dass ich zu ihnen aufgebrochen war, als ich den Grund für ihren Anruf erfuhr. Sie sagten, dass sie Geld brauchten, und ich bot ihnen großzügig das bisschen an, das mir geblieben war. Aber das war es nicht, was sie wollten.
    »Nein, Kumpel«, sagte Rosario zu mir, »wir brauchen wirklich ‘ne Menge Geld.«
    »Aber was heißt denn ‘ne Menge?«, wollte ich wissen.
    »Sehr viel, Alter, ‘ne ganze Menge«, sagte Emilio.
    Problematisch war allerdings nicht die Menge, sondern die Quelle, der Ort, wo ich und wie ich, der einstimmig von beiden dafür ausgewählt worden war, dieses Geld besorgen sollte.
    »Sag ihnen einfach nur, ich würd dich schicken«, sagte Rosario.
    »Aber warum ich?«, fragte ich ängstlich. »Warum geht ihr nicht?«
    »Weil sie mich momentan nicht sehen wollen«, erklärte Rosario.
    »Warum sollten sie dir dann die Kohle geben.«
    »Weil ich sie darum bitte«, sagte sie. »Merks dir gut: Du musst sagen, dass ich dich im Guten schicke, um das Geld einzufordern, merks dir: im Guten.«
    »Was heißt das denn?«, frage ich mit wachsender Angst. »Was meinst du mit ›im Guten‹?«
    »Sie wissen Bescheid, Kumpel, tu lediglich das, was ich dir sage.«
    »Und warum gehst du nicht?«, wandte ich mich an Emilio.
    »Ich!?«, antwortete der Angsthase. »Siehst du nicht, dass ich der Freund bin?«
    »Schau mal, Kumpel«, sagte Rosario zu mir, wobei sie versuchte, geduldig zu sein, »wenn du mich nur ein bisschen lieb hast, dann tu mir den Gefallen.«
    »Wenn du mich nur ein bisschen lieb hast …«, dachte ich, »die Liebe spielt eine ihrer schlimmsten Waffen aus.« Natürlich hatte ich sie lieb. Aber wie sehr hatte sie mich lieb, um mich in diese Sachen hineinzuziehen? Wie weit musste ich mich erniedrigen, um ihr »Wenn du mich nur ein bisschen lieb hast« vor mir oder vor ihr zu rechtfertigen. Was galt die Erpressung in der Liebe, wo alles benutzt wird? Kann es sein, dass jemand den Feigling liebt? Den Letzten in der Reihe?
    »Aber wozu so viel Kohle?«, wechselte ich das Thema.
    »Frag doch nicht so einen Blödsinn«, wies mich Emilio zurecht. »Wirst du hingehen, ja oder nein?«
    »Natürlich wird er hingehen«, sagte sie und nahm zärtlich meine Hand. »Natürlich wirst du hingehen.«
    Durch ihr schmutziges Spiel entdeckte ich das Äußerste der Liebe, den kritischen Punkt, an dem ich bereit war, für Rosario zu sterben. Ich sah sie mit meiner Hand zwischen ihren Händen, mit ihren liebevollen Augen, auch wenn ihr Blick geheuchelt war, mit ihrer Zunge, die vergebens versuchte, ihre trockenen Lippen anzufeuchten, und ich konnte, ich wollte nicht Nein sagen. Mich störte weder die Dreistigkeit, mit der sie mich benutzte, noch die falsche Zuneigung dieser Hände, dieser Augen, dieser Zunge.
    Ich hatte nichts mehr zu verlieren.
    »Was soll ich also tun?«
    »Nichts«, sagte sie, als wäre es so. »Frag einfach nur nach ihm.«
    »Und wie red ich ihn an?«, wollte ich

Weitere Kostenlose Bücher