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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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Folgen nicht schlimmer ausfallen können. Als sie aus ihrem Zimmer kam, dachte ich erst, sie sei rückfällig geworden. Ich wusste ja nicht, dass sie einen Anruf von Emilios Familie erhalten hatte. Fuchsteufelswild kam sie herausgeschossen.
    »Was für eine Bande von Arschlöchern!«
    »Was ist denn passiert, Rosario?«
    »Ich bring sie um! Die knöpf ich mir vor, und zwar alle, verdammt nochmal!«
    »Aber was, was ist passiert? Wer war das denn? Waren sie es?«
    »Sie? Welche ›sie‹? Diese Arschlöcher sind die schlimmsten von allen.«
    Während sie ihre Schmähungen ausstieß, konnte ich erraten, um was und um wen es eigentlich ging. Sie gebärdete sich wie eine Furie. Die Zeit verstrich, doch sie war nicht zu beruhigen. Im Gegenteil, ihre Verfassung verschlimmerte sich. Ich bekam Angst um ihre Gesundheit, um ihren Zustand, um ihre Genesung. Ich dachte, die ganze Mühe wäre umsonst gewesen. Vergeblich versuchte ich, sie zu beruhigen, aber ich kannte sie ja, ich wusste, dass es eine Frage der Geduld war, doch sie ließ nicht locker.
    »Verdammte Arschlöcher!«
    »Lass dir doch keinen Scheiß erzählen.«
    »Scheiß? Weißt du, was ich denen verklickert habe? Was ich diesen Wichsern geantwortet hab? Dass sie ihre Kohle, ihre netten Vorschläge, ihr ›Wir wollen dir ja nur helfen‹, ihr ›Es ist für alle das Beste‹, ihr ›Wir sind angesehene Leute‹, ihren Namen, ihren Ruf, dass sie sich aus all dem ein Röllchen drehen und es sich in den Arsch schieben sollten. Ha! Und ich habe ihnen außerdem gesagt, dass sie, falls noch Platz ist, Emilio hinterher schieben sollen.«
    »Das alles hast du ihnen gesagt?«
    »Das und noch viel mehr!«
    Ich brach in ein solches Gelächter aus, dass Rosario unvermeidlich angesteckt wurde, und als ich sie lachen sah, beruhigte ich mich ein wenig. Das Feuer begann zu verlöschen, obwohl ich sicher war, und ich täuschte mich auch nicht, dass Emilios Familie durchzuknallen begann. Doch ich konnte nicht aufhören zu lachen, als ich mir ihre Gesichter und den Aufruhr vorstellte, den Rosarios loses Mundwerk verursacht haben musste. Vielleicht hatte mein Vergnügen daran, wie ich später mit gewissen Schuldgefühlen dachte, mehr mit der Vorstellung von Emilio in den Gedärmen seiner Familie zu tun als mit Rosarios Verunglimpfungen.
    Doch der Vorfall wirkte sich auf ihr Verhalten aus. Seit dem Tag, an dem sie beschlossen hatte, die Fenster zu öffnen, bis zum Anruf von Emilios Familie war Rosario, und damit auch ich, in Hochstimmung gewesen. Wir waren nur mit uns selbst beschäftigt. Noch immer abgeschottet von der Welt da draußen, aber auf hartem Kurs aus dem Schattendasein. Weder vorher noch nachher haben wir die Gegenwart des anderen so genossen, nicht einmal in den Stunden unserer gemeinsamen Nacht, dieser verfluchten Nacht, die später kommen sollte und die mich glauben ließ, Rosario nackt unter meinem Körper zu haben bedeutete, dass ich glücklich war. Nein, wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich mir sicher, dass ich die besten Momente mit ihr hatte, als wir gemeinsam das Licht in diesem Tunnel suchten, an den Rosario nicht glaubte. Wir schafften es nicht bis zu diesem Schimmer, aber die Wegspanne, die wir schafften, war hell genug, um mich für den Rest meines Lebens zu blenden. Nach und nach war Rosarios Beklemmung einer Sanftheit gewichen. Sie überraschte mich mit neuen Facetten, die ich stets geahnt hatte, obwohl ich nicht geglaubt hätte, sie jemals kennen zu lernen oder gar zu genießen. Hätte sie jemand zu dieser Zeit kennen gelernt, hätte er sich niemals ihre Aggressivität, ihre Gewalttätigkeit, ihren Lebenskampf vorstellen können. Sogar ich ließ mich blenden von der Vorstellung, dass Rosario von ihrer Vergangenheit geheilt war. Sie sprach in einem weicheren Tonfall, der mit ihrem Mienenspiel in Einklang stand. In ruhigen Worten erzählte sie mir von ihren Plänen, wie ihr neues Leben aussehen würde, womit sie endgültig Schluss machen wolle, was sie aus ihrer Geschichte streichen würde, um neu anzufangen.
    »Das wird mein letztes Verbrechen sein, Kumpel«, sagte sie zu mir. »Ich werde alles, was bisher war, töten.«
    Sie hatte ihre raue Schönheit wiedererlangt, und die Blässe wich dem kaffeebraunen Hautton. Sie war zu ihrem alten Charme, ihren Jeans, ihren nabelfreien Shirts, ihren bloßen Schultern und ihrem zähnefunkelnden Lächeln zurückgekehrt. Sie war wieder so wie früher, aber anders, exquisiter, offener für das Leben, noch anziehender, um

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