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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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sich in sie zu verlieben. Doch genau in diesem Punkt änderte sich nichts. Wie sollte ich sie denn noch mehr lieben, wenn ihre Veränderungen immer mehr meinen Träumen entsprachen, dem, was ich mir immer von ihr erhofft hatte? Wie sollte ich sie lieben und mich selbst nicht verlieren? Wie sollte ich aufhören, ihr »Kumpel« zu sein, und zu Rosarios einzigartigem, unverzichtbarem Teil, Antrieb und Lebenselixier werden? Wie sollte ich ihr beibringen, dass ich sie am liebsten gar nicht mehr aus meiner Umarmung entlassen hätte, dass sich meine Küsschen auf die Wangen am liebsten zu ihrem Mund verirrt hätten, dass ich mit meinen Worten nur die Hälfte sagte? Wie ihr erklären, dass ich bereits unzählige Nächte mit ihr verbracht hatte, dass ich sie durch mein Leben geführt hatte, sie mir in meiner Vergangenheit vorgestellt und mir den Rest meines Lebens mit ihr ausgemalt hatte? Und obwohl sie wie neu geboren war, mit Plänen und guten Vorsätzen, obwohl Emilio abserviert war, Ferney mit ihren Plänen immer weniger zu tun hatte und die Oberharten auf der Flucht vor der Regierung waren, ob das Dilemma weiterging oder sich alles änderte, für mich würde doch alles beim Alten bleiben, wie am ersten Tag, an dem ich anscheinend verliebt in Rosario Tijeras erschrocken erwachte.
    Was in stürmischer Weltabgeschiedenheit begann, wurde zu einem Ferienerlebnis, das gut und gerne bis ans Ende hätte dauern können. Ohne das Apartment zu verlassen, ging ich mit Rosario an der Hand spazieren. Wenn ich diesen ungewohnten Klang in ihrer Stimme hörte, fühlte ich mich wie auf einer grünen Wiese, wo ich von einer frischen Brise umweht wurde und wie ein Komet mit offenen Armen den Wind empfing. Ich wünschte, das Leben würde so weitergehen. Ohne Störenfriede, ohne die lästigen Bewohner, die in Rosario hausten. Ich verzieh mir sogar, meinen besten Freund zum Teufel zu wünschen, mich nicht um meine Familie zu kümmern, alles wegen einer Frau aufgegeben zu haben. Ich dachte, meine absolute Hingabe wäre das wert. Ich fühlte mich mehr als Erlöser denn als Verräter oder undankbarer Mensch und glaubte, dass man mir im Namen der Liebe sämtliche Verletzungen verzeihen würde. Später stellte ich fest, dass die Nachsicht der anderen Mitleid entsprang, weil die, die von mir enttäuscht wurden, meinen Irrtum, von dem ich ein Teil und deshalb blind war, erkannt hatten. Aber es dauerte nicht lange, bis ich ihn sah. Denn nach all diesen Nächten, in denen ich mit offenem Mund Rosario zugehört hatte, wie sie an ihren eigenen Geschichten, ihren Plänen und Träumen Gefallen fand, nach den vielen Umarmungen, mit denen ich sie in ihren guten Vorsätzen bestärkt hatte, nachdem ich sie für geheilt hielt, nach all dem weckte uns eines Nachts das Telefon, und natürlich ging ich ran, damit ich auch ja keinen Zweifel mehr an meinem Irrtum hegen konnte, ich ging ran und lief in ihr Zimmer, um sie zu wecken.
    »Eine Frau für dich«, sagte ich, noch immer in der Hoffnung, es wäre ein Versehen. »Sie hat ihren Namen nicht gesagt.«
    Rosario knipste die Nachttischlampe an und hielt einen Moment inne. Ich dachte, sie brauchte einen Augenblick, um wach zu werden, aber ihre starre Haltung hatte ausschließlich mit dem Anruf zu tun.
    »Gib sie mir«, sagte sie schließlich, und dann kam das Schlimmste. »Mach die Tür zu.«
    Nur widerstrebend legte ich den Hörer von meinem Apparat auf. Ich hätte gerne den Grund meiner Besorgnis bestätigt gesehen, aber auf so direkte Weise gestand ich mir das nicht zu. Ich entschied mich für die weniger dreiste Variante des Türlauschens, aber ich bekam nicht viel mit, nur eine Reihe von »Ja … ja … ja«, die mich, während ich sie vernahm, auf den Boden sinken ließen, wo ich nach den vielen Jas und einem heftigen »Sag ihnen, dass ich auf dem Weg bin« niedergeschmettert liegen blieb. Ich merkte, dass sie Lichter anmachte, Kartons und Türen öffnete, und hörte sogar, wie der Schlüssel zum Bad umgedreht wurde. Ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit verging, bis sie mit ihrer Reisetasche auf den Flur trat, die Autoschlüssel in der Hand, so zerstreut und in Eile, dass sie gar nicht merkte, dass ich wie ein Hund vor ihrer Tür lag. Weder verabschiedete sie sich noch hinterließ sie eine Nachricht. Solche Aufmerksamkeiten wären sowieso nicht nötig gewesen. Ich brauchte keinerlei Erklärung. Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang.
    »Wieder«, sagte ich mir und konnte mich nicht mehr

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