Die Scherenfrau
führte mich zu einem Grab hin. Das hatte allerdings keine Statuen, dafür wurde es von zwei Kerlen bewacht.
»Hier ist es«, sagte sie feierlich.
Die beiden Jungs nahmen Haltung an, als sie sie sahen. Wie zwei Soldaten der Ehrenwache.
»Wer ist das denn?«, fragte ich.
»Die halten Wache«, erklärte sie mir.
»Was heißt das?«
»Auch wenn wir ordentlich aufgeräumt haben, fehlt doch noch einiges«, erklärte sie mir. »Außerdem hatten ihn die Teufelsanhänger so gern, dass sie einmal versucht haben, den Leichnam zu klauen. Die Ärmsten. Wie isses, Jungs, wie stehn die Aktien?«
»Wie isses, Rosario?«, antworteten sie gleichzeitig. »Gehts gut?«
Ich war so vertieft in das, was ich sah, dass ich glaubte, die Musik, die zu hören war, käme von draußen. Aber als sie ihre Tasche öffnete und den Jungs ein paar CDs reichte, bemerkte ich, dass die Musik direkt aus dem Grab schallte. Ein schrecklicher Lärm aus einer Musikanlage, die von Gittern geschützt und von Blumen verdeckt wurde. Rosario tauschte ein paar Worte mit den Jungs, dann traten sie ein wenig beiseite, weit genug, um ihr ausreichend Privatsphäre zum Beten zu geben. Ich trat ebenfalls näher. Ich kniete mich zwar nicht hin, aber die Inschrift auf dem Grabstein konnte ich lesen: »Hier liegt ein toller Kerl«. Daneben ein ziemlich unscharfes und vergilbtes Foto von Johnefe. Trotz der Lautstärke der Anlage trat ich noch näher heran.
»Das ist sein letztes Photo«, sagte Rosario.
»Sieht aus, als wäre er tot«, sagte ich.
»Er war tot«, sagte sie, während sie die Musik ein wenig leiser stellte. »Das war, als wir mit ihm rumgezogen sind. Nachdem sie ihn umgebracht hatten, sind wir mit ihm auf Tour gegangen, wir haben ihn an seine Lieblingsorte gebracht, haben seine Musik gespielt, haben uns betrunken und bekifft, haben halt all das gemacht, was ihm gefallen hat.«
Jetzt verstand ich das Foto. Im Hintergrund konnte ich ein paar bekannte Gesichter ausmachen, Ferney, einer, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, und Rosario. Deisy sah ich nicht. Sie sahen toter aus als der Tote selbst, hatten Schnapsflaschen unterm Arm, auf den Schultern einen riesigen Ghettoblaster und Johnefe, den sie an den Armen stützten, in ihrer Mitte.
»Der Ärmste«, sagte Rosario. Dann bekreuzigte sie sich.
Sie zupfte ein wenig die seltsame Mischung aus Rosen und Nelken zurecht, die das Grab schmückte, stellte die Musik wieder lauter und warf ihm mit trauriger Miene einen so langen und so liebevollen Kuss zu, dass ich am liebsten selbst dort gelegen hätte.
»Bis dann, ihr beiden. Passt mir auf ihn auf, ja?«
Als die beiden Schutzengel zum Abschied ihre Arme hoben, konnte ich unter ihrem Bauchnabel die Pistolen sehen, die im Bund ihrer Jeans steckten. Ich fasste Rosario bei der Hand und beschleunigte meinen Schritt. Ich wollte weg dort. Ich war so durcheinander, dass ich nicht nachdachte, als ich sie arglos fragte:
»Glaubst du wirklich, dass dein Bruder bei dieser brutalen Musik in Frieden ruhen kann?«
Durch ihre Sonnenbrille hindurch sah ich ihren wütenden Blick. Es war zu spät, um ihr zu erklären, dass das kein Scherz war. Doch ihre Reaktion war nicht so heftig, wie ich erwartete hatte. Das konnte sie sich einfach nicht erlauben, nachdem sie so sehr hinter mir her gewesen war. Das gab mir ein gutes Gefühl.
»Du redest völligen Schwachsinn daher, Kumpel«, sagte sie und ließ meine Hand los, was mir ein wenig den Geschmack des Triumphs verdarb, von dem ich gerade gekostet hatte.
Dieser Besuch war der Vorwand, um weiterzumachen, um ein letztes Mal zusammen zu sein. Denn was jetzt begann, war ein langer Abschied, das Zerbrechen einer Bindung, von der ich bereits geglaubt hatte, dass sie mich ein Leben lang begleiten würde. Und wieder war das Trio beisammen.
»Diesmal müssen wir hübsch anständig bleiben«, machte Emilio uns klar, »und schön vernünftig.«
»Ich hab nichts dagegen«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, meinte Rosario ohne rechte Überzeugung.
Es waren Versprechen, die uns halfen, unsere Wiedervereinigung zu rechtfertigen. Gute Vorsätze, mit denen sich jemand, der rückfällig wird, betrügt.
Emilio war nach ein paar Tagen aufgetaucht. Ich weiß nicht, wie das Wiedersehen ausfiel, doch nehme ich an, nicht viel anders als früher. Er wollte allerdings wissen, wie es bei mir gewesen war. Also erzählte ich ihm von dem Friedhof.
»Und hast du den Nachnamen gesehen?!«, fragte er und packte mich an den Schultern.
»Welchen
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