Die Schicksalsgabe
denen Städte und Militärlager verzeichnet sind.«
»Bitte richte Seiner Majestät aus, dass mir als Nichtangehöriger des Militärs derartige Informationen nicht zur Verfügung stehen.«
Edler Fischreiher begab sich wieder zu seinem Souverän, absolvierte erneut drei Kotaus, überbrachte die Antwort, nahm eine neue Weisung entgegen und kam zurück. Und so ging es eine ganze Weile weiter.
»Mein Herr sagt, dass du, ehrenwerter Gallus, als Kaufmann Flüsse kennst und Grenzen und Städte. Und dass er dies alles und ihre genaue Lage innerhalb deines Reichs gern schwarz auf weiß hätte. Mein Herr wird Kartographen, Zeichner, Kalligraphen und alles, was du an Papier und Pergament benötigst, zur Verfügung stellen. Er wird so viele Leute für dich abstellen und dies für so viele Monate oder Jahre, wie dich diese Arbeit in Anspruch nimmt. Dein Wohlergehen liegt meinem Herrn sehr am Herzen, ebenso deine geistigen Bedürfnisse. Deshalb wird er dir in seiner Großmut gestatten, hier in Luoyang einen Schrein für deine Ahnen zu errichten, denn ein Mann muss seine Ahnen in Ehren halten.«
Die drei aus Rom bedachten diese Nachricht bei süßglasiertem Schweinefleisch und Curryreis und begriffen allmählich die tiefere Bedeutung der vom Kaiser zuletzt geäußerten Worte.
Sebastianus, Primo, Timonides und Nestor waren ab sofort Gefangene des chinesischen Kaiserreichs.
31
Sie wurden »Blumen der Gesellschaft« genannt, und ihre einzige Aufgabe bestand darin, den Gästen des Kaisers erotische Vergnügungen zu bereiten.
Kleiner Sperling, die aus einem Adelsgeschlecht stammte, war eines dieser jungen Mädchen am kaiserlichen Hof in Luoyang; sie beherrschte die Künste des Liebesspiels, auch die Neunundzwanzig Positionen zwischen Himmel und Erde. Vor allem verstand sie sich auf das »Teilen des Pfirsichs« und auf das »Abschneiden des Ärmels«, zwei ausgefeilte Varianten in ihrem Repertoire, mit denen sie den Gästen des Kaisers seit ihrem dreizehnten Lebensjahr höchste Wonnen verschaffte.
Mittlerweile war sie zwanzig. In den letzten sieben Jahren war es ihr gelungen, nicht gegen die oberste Regel der Blumen der Gesellschaft zu verstoßen – sich auf keinen Fall zu verlieben. Ihre Schwestern im Schlafsaal hatten sie immer wieder davor gewarnt, und sie selbst hätte nie gedacht, dass es tatsächlich dazu kommen könnte. Aber jetzt, da Kleiner Sperling in den Armen von Heldenhaftem Tiger lag, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihm die ganze Nacht zuzuhören. Es tat nichts zur Sache, dass sie kein Wort von dem, was er sagte, verstand. Sie berauschte sich am Tonfall seiner Stimme, dem vollen Timbre, den exotischen Silben, die ihm über die Lippen kamen, an der so völlig anders gearteten Sprache. Nach dem Liebesspiel ließ er gern eine Zeitlang seinen Gedanken freien Lauf, reicherte den duftigen Abend mit Worten aus einer fernen Welt an, während sie sich in seine starken Arme kuschelte und sich wünschte, die Nacht würde nie zu Ende gehen.
Sie lagen auf einer mit Gänsedaunen ausgestopften Matratze, in seidenen Betttüchern, derweil ein blinder Sklave mit einem pompösen Federfächer ständig die Luft in Bewegung hielt. Ansonsten war das Liebespaar unter sich, konnte höchstens Stimmen und Musik des kaiserlichen Haushalts über die Gartenmauer wehen hören. Kleiner Sperling kam es vor, als würde Heldenhafter Tiger von seinem Zuhause im unendlich weit entfernten Westen sprechen. Sie sandte ein stummes Dankesgebet zu den Göttern für diesen Mann mit dem bronzefarbenen Haar, an den sie ihr Herz verloren hatte.
Eine Blume der Gesellschaft war geachtet und wurde respektiert. Es war eine große Ehre, am kaiserlichen Hof zu leben und wichtigen Besuchern als Gespielin zur Verfügung zu stehen. Nur Töchter aus dem höchsten Adel wurden für dieses Amt ausgewählt, für das anspruchsvolle Kriterien zu erfüllen waren: gutes Aussehen, tadelloses Benehmen, körperliche Gesundheit und die Fähigkeit, einem Mann Vergnügen zu bereiten. Kleiner Sperling hatte ein entzückendes rundes Gesicht, einen makellosen Teint, einen biegsamen schlanken Körper, kleine Hände und Füße. Ihre Familie war äußerst stolz, als sie unter hundert Kandidatinnen ausgewählt wurde. Jede Menge Vorschriften galt es zu befolgen; darüber hinaus wurde allen Mädchen Bescheidenheit, Diskretion und reizvolle Aufmachung beigebracht. Oberstes Ziel war das Wohlbehagen der Gäste. Was die Mädchen selbst empfanden, war nicht von Belang. Sobald eine
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