Die Schicksalsgabe
Neue in den Kreis der Blumen der Gesellschaft aufgenommen wurde, brachte man sie in einem von Eunuchen beaufsichtigten Trakt unter, wo sie ein Leben in Luxus und Sorglosigkeit führte und an nichts anderes zu denken hatte als daran, ihre Frisur so phantasievoll wie möglich zu gestalten oder ihren Augenbrauen mit dem Stift zusätzlichen Schwung zu verleihen. Wurde sie zu einem Gast gerufen, blieb sie so lange wie nötig, sprach nur, wenn sie angesprochen wurde, und kehrte anschließend in ihren Wohnbereich zurück.
Kleiner Sperling hieß eigentlich ganz anders. Als der Oberste Eunuch sie dem angesehenen Gast aus einem Ort namens Rom vorgestellt hatte, hatte der ihren Namen – der unglaublich lang war und »sie, die einen kleinen Bruder erwartet« bedeutete, weil sich ihre Eltern einen Sohn erhofft hatten – nicht aussprechen können. Deshalb hatte sie dem Eunuchen vorgeschlagen, dem Mann aus dem Westen ihren Milchnamen zu nennen, den man provisorisch bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres erhielt, da viele Säuglinge bereits vorher starben. Ihre Eltern hatten sie Kleiner Sperling gerufen, und jetzt war es der Mann aus dem Westen, der sie so nannte.
Weil sie ihrerseits den Namen des Fremden – Sebastianus – nicht aussprechen konnte, nannte sie ihn Heldenhafter Tiger, denn wie ein solcher verhielt er sich im Bett.
Aber es waren nicht nur seine sexuellen Fähigkeiten, weshalb sie sich in ihn verliebt hatte. Anders als frühere Gäste des Kaisers, denen sie Vergnügen bereitet hatte, ging Heldenhafter Tiger ungemein zärtlich mit ihr um. Er lächelte sie an, strich ihr übers Haar, fragte, wie sie sich fühle. Für andere – angesehene Botschafter und Prinzen, denen während ihres Besuchs in Luoyang diese Art kaiserlicher Gastfreundschaft gewährt wurde – war Kleiner Sperling ein Möbelstück gewesen, etwas, um die Strapazen der Reise abzubauen und dann von sich zu schieben. Dass es gefährlich war, sich zu verlieben, wusste sie zwar genau, aber bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr hatte sie für keinen der Männer, denen sie die Zeit versüßte, auch nur den Hauch einer Zuneigung verspürt.
Aber vor sechs Monaten wurde sie zur Bettgespielin von Heldenhaftem Tiger auserwählt, und in diesem halben Jahr hatte sie trotz aller Vorsicht ihr Herz an ihn verloren. Ihre Liebe zu diesem Fremden behielt sie streng für sich, weihte keine ihrer Freundinnen ein, gestand sie nicht einmal Heldenhaftem Tiger selbst.
Da sie aber wusste, dass er niemals die Erlaubnis erhalten würde, Luoyang zu verlassen, hoffte sie inständig, er werde sie, wenn sie alt und nicht länger begehrenswert war, als Gefährtin bei sich behalten.
Ein Gong in der Ferne verkündete die mitternächtliche Stunde, für Kleiner Sperling das Zeichen, sich zurückzuziehen. Wie immer küsste Heldenhafter Tiger sie zärtlich auf die Stirn und rollte sich zum Schlafen auf die andere Seite. Kleiner Sperling war noch dabei, sich anzukleiden, als jemand an der äußeren Tür klopfte. Heldenhafter Tiger sprang aus dem Bett, und dann vernahm Kleiner Sperling einen hastigen Wortwechsel.
Als sie den abstoßenden Riesen namens Primo ins Zimmer stürzen sah und hinter ihm einen Übersetzer von Heldenhaftem Tiger und außerdem einen wie aus einer südlichen Provinz gewandeten Edelmann, raffte sie ihre Kleider vor dem blanken Busen zusammen und schlüpfte hinter einen Wandschirm.
Durch eine Ritze riskierte sie einen Blick auf die Versammelten. Da erkannte sie den vierten Mann. Es war Kühner Drache, ein Adliger, der für seine politischen Ambitionen bekannt war.
Seine Familie war mächtig und wohlhabend und hatte viele Freunde. Kleiner Sperling, die dem Gespräch lauschte, begriff rasch, dass er gekommen war, um den Besuchern aus dem Westen anzubieten, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Vermutlich nicht aus Mitgefühl, sondern um die Macht des Kaisers zu untergraben. Denn wenn diese fremdländischen »Gäste« sich mir nichts, dir nichts aus den Klauen des Kaisers befreiten, würde Ming sein Gesicht verlieren.
Mit angehaltenem Atem hörte Kleiner Sperling, wie aus Wörtern und Sätzen, die sie verstehen konnte, ein Komplott geschmiedet wurde – wie Kühner Drache prahlte, er könne Heldenhaften Tiger aus Luoyang und zurück zu den westlichen Grenzen bringen, dass allerdings dafür ein hoher Preis zu zahlen sei. Er habe keinen Bedarf an Gold oder Reichtümern, sagte der junge Adlige, aber da er durch seine Mitwirkung ein hohes persönliches Risiko
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