Die Schicksalsgabe
persönlicher Kosmetikerinnen ihr das Gesicht, entfernte jedes noch so feine Härchen, auch die der Augenbrauen. Dann wurde ihr Gesicht mit weißem Reispuder grundiert und kunstvoll geschminkt. Um ihr Erscheinungsbild zu wahren, pflegte die Kaiserin keine Miene zu verziehen und beim Sprechen nur minimal Lippen und Kinnlade zu bewegen. Zweck der Übung war, den Anschein einer Porzellanpuppe zu wahren.
»Ich habe dir diese Audienz eingeräumt, Kleiner Sperling«, sagte sie so sanft und geschmeidig wie die Seidengewänder, die sie trug, »weil ich deinen Vater als meinen Freund bezeichne. Aber fasse dich kurz, die Zeit drängt.«
Kleiner Sperling zelebrierte neun Kotaus vor der Mutter des Kaisers, und als sie die Erlaubnis zum Sprechen erhielt, berichtete sie von dem nächtlichen Treffen zwischen dem ehrenwerten Kaufmann aus Rom und einem Adligen namens Kühner Drache, der einen Plan unterbreitet hatte, wie er den Männern aus dem Westen zur Flucht verhelfen konnte. »Kühner Drache will zum Fest des Silbernen Mondes fahrende Unterhaltungskünstler in die Stadt bringen«, brachte sie angesichts der mächtigen Frau zitternd vor Angst vor. Aber es musste sein – sie wollte doch unbedingt, dass Heldenhafter Tiger in Luoyang blieb! »Und wenn dann Seine Erhabene Majestät der Kaiser durch die Vorführungen der Truppe abgelenkt ist, soll ein Artist nach dem anderen durch die Männer aus dem Westen ersetzt werden. Und zwar nach Beendigung jeder Nummer, wenn die jeweiligen Akteure die Bühne verlassen. Sie werden ihre Kleider mit denen der Fremden tauschen, die dann in dieser Verkleidung in die Stadt gehen und schließlich die Tore passieren. Wenn alle Westler fort sind, sollen Vorkehrungen getroffen werden, damit die vier persönlichen Gäste des Sohns des Himmels im Laufe der Nacht ihren Gefährten folgen können. Bis der Betrug aufgedeckt wird, dürften sie bereits weit weg sein.«
Die Lieblingsgrille der Kaiserinwitwe zirpte in ihrem Bambuskäfig, ihre Kammerfrauen verharrten still und stumm wie Statuen auf ihren Plätzen. Die Kaiserin rührte sich nicht. Die goldenen Quasten und papiernen Vögel, die ihren aufwendigen Kopfputz zierten, bewegten sich nur, weil ein leiser Windhauch durch den Pavillon fuhr.
Kleiner Sperling hämmerte das Herz bis zum Halse. Hatte sie etwa gerade einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen?
»Dadurch, dass du mir dieses Geheimnis anvertraut hast«, sagte die kaiserliche Witwe schließlich, »hast du Schande über deine Familie gebracht.«
Kleiner Sperling fiel auf die Knie und warf sich zu Boden. »Ich nahm an, Deine erhabene Majestät würde sich freuen, über diesen Betrug informiert zu werden, damit sie die Fremden schärfer bewachen lassen kann!« Und so, dachte sie, hätte man Heldenhaften Tiger für immer am Hof behalten.
»Törichtes Kind, wie kannst du nur annehmen, dass sich mein Sohn so leicht täuschen lässt? Du bist töricht, weil du eine der Regeln deines Amtes missachtet hast, nämlich die, dass es dir untersagt ist, über Dinge zu sprechen, die ein ehrenwerter Gast im Schlafzimmer äußert. Du wirst zu deiner Familie zurückkehren. Und deinem Vater sagen, dass sein Name am Hofe des Kaisers nicht länger erwähnt wird.«
»Aber … er wird mich töten!«
»Das steht einem Vater zu.«
Auf ein Zeichen der Kaiserin hin traten Wachen ein und führten Kleinen Sperling ab. Sie flehte nicht um Gnade. Bis zuletzt bewahrte sie Würde, selbst dann noch, als sie die grausame Ironie ihres Tuns erkannte: Dadurch, dass sie den geheimen Fluchtplan von Heldenhaftem Tiger verraten hatte, damit er bei ihr blieb, hatte sie ihr eigenes Leben verwirkt.
32
»Ein riskantes Vorhaben, Meister«, meinte Timonides, als sie auf dem belebten Marktplatz Ausschau nach Kühnem Drachen hielten, ohne Nestor aus den Augen zu lassen, der trotz aller Ermahnungen noch immer glaubte, man könne sich nach Lust und Laune an den auf den Verkaufsständen ausgebreiteten Waren bedienen. »Der Kaiser hat seine Augen und Ohren überall. Ming weiß, dass wir wegwollen und nach einer Möglichkeit zur Flucht suchen.«
»Wenn wir die nicht finden, mein Freund«, gab Sebastianus zurück und hielt am Tor der Himmlischen Harmonie Ausschau nach Primo und Kühnem Drachen, »dann sind wir für den Rest unseres Lebens zum Hierbleiben verdammt.« Nach neun Monaten kaiserlicher Gastfreundschaft, so großzügig, wenn nicht gar verschwenderisch sie auch war, zog es Sebastianus mit aller Macht nach Hause. Ming jedoch
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