Die Schicksalsgabe
fristen konnten, bis zu den Villen der Reichen im Norden am Rande des kaiserlichen Palasts, wo das Leben in Anmut und Wohlbehagen verlief –, war ihnen nichts mehr fremd.
Die Karawane und was sie an Waren mit sich führte, war vom Kaiser konfisziert worden. Dennoch hatte Sebastianus keinen Grund, sich zu beklagen. Er selbst hatte erklärt, die Waren seien Geschenke für Ming. Die Sklaven und Diener sowie Primos Kampftruppe, die ebenfalls unter Kuratel stand, waren in Luoyang in Quartieren untergebracht, die ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Rang entsprachen. Die Einzigen, die ihre Inhaftierung als glückliche Fügung ansahen, waren die buddhistischen Missionare, die viele Stunden mit dem Kaiser verbrachten und ihm das Leben und die Philosophie ihres Begründers, dem Erleuchteten, erläuterten.
»Meister«, sagte Timonides jetzt zum wohl hundertsten Mal, »warum gibst du dem Kaiser nicht, was er will? Wenn du ihm nicht den Standort von militärischen Garnisonen oder entscheidende geographische Gegebenheiten verraten willst, dann denk dir einfach was aus. Zeichne ihm eine phantasievolle Karte des Römischen Reichs. Das wird er nie und nimmer merken!«
Jedes Mal, wenn Sebastianus zum Kaiser gerufen wurde, äußerte Ming die höfliche Bitte, sein ehrenwerter Gast möge ihm doch eine Karte des Römischen Reichs zeichnen und dort auch Militäreinrichtungen, Truppenbewegungen und Kriegsstrategien vermerken. Und jedes Mal beteuerte Sebastianus, dass er darüber nicht Bescheid wisse – was nur teilweise zutraf. Für Timonides schien das zu bedeuten, dass sie bis zu ihrem Lebensende in Luoyang festgehalten werden würden, wenn Sebastianus dem chinesischen Herrscher nicht das Gewünschte lieferte.
»Timonides, alter Freund, wie ich dir schon gesagt habe, will Ming mich damit nur auf die Probe stellen. Er will Aufschluss über meinen Charakter und meine Integrität. Es ist egal, ob ich ihm eine echte Militärkarte vom Reich zeichne oder eine falsche – in beiden Fällen würde dies eine Charakterschwäche meinerseits offenbaren, denn Erstere würde Verrat an meinem Herrscher bedeuten, Letztere eine Täuschung. Für Ming steht fest, dass es nur das eine oder das andere sein kann. Und sobald ich die Achtung des Kaisers verliere, sind wir nicht länger seine Gäste, bin ich nicht länger ein Abgesandter Roms. Dann ist unsere Mission gescheitert, und wir kehren in Schande nach Hause zurück.«
»Aber bis jetzt kehren wir überhaupt nicht nach Hause zurück!«
»Wenn uns die Flucht gelingt und wir nicht wieder gefasst werden, haben wir sowohl in den Augen Cäsars wie auch des Kaisers Ming das Gesicht gewahrt. Allerdings brauchen wir Hilfe. Wo bleiben eigentlich Primo und Kühner Drache?«
Weil sie wussten, dass sie überwacht wurden, schlenderten Sebastianus und Timonides gemächlich über den Markt, schützten Interesse für Dinge vor, die es in Rom nicht gab und deren Sinn und Zweck sie sich demonstrieren ließen: kleine Stäbchen, die man zum Essen in die Hand nahm; etwas aus Bambus und Wachstuch, was man sich zum Schutz gegen Regen und Sonne über den Kopf hielt; Fächer aus Federn und Seide, um sich bei Hitze kühle Luft zuzufächeln; ein Brett mit einem daran befestigten Metalllöffel, der, auch wenn er gedreht wurde, immer wieder nach Norden wies. Sie sahen wundersame Dinge wie aus Papier gefertigte Laternen, die nächtens ihr Licht verbreiteten; Alchimisten, die schwarzes Pulver zur Explosion brachten; an einer langen Schnur befestigte kleine Bambusgestelle, deren Seidenbespannung im Wind flatterte.
Das Meiste davon dünkte Sebastianus wie Spielzeug und Firlefanz, obwohl es auch verblüffend Raffiniertes zu sehen gab, zum Beispiel das per Hand zu bewegende Gefährt mit vorne einem Rad und zwei Griffen hinten, an denen man es schob und lenkte – eine geniale Erfindung, die es einem Arbeiter ermöglichte, Material, das zum Schleppen zu schwer war, von einem Ort zum anderen zu schaffen. In Rom gab es nichts dergleichen.
Sebastianus wünschte sich, Ulrika könnte diese Erfindungen mit eigenen Augen sehen. Jedes Mal, wenn er etwas entdeckte, was neu für ihn war, dachte er an sie, stellte sich vor, wie sie reagieren würde. Ulrika las gern. Was würde sie mit Literatur anfangen, die auf Seidenrollen gedruckt oder in Büchern aus Pfirsichholz gemalt war? Wie würde sie sich über
Das Buch der Wandlungen
von Konfuzius äußern, über
Die Kunst des Krieges
von Sun Tzu, über ein Buch der Weissagung mit dem Titel
I
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