Die Schicksalsgabe
China gekommen und vor den Thron des Kaisers getreten. Er wusste, dass man ihn in Rom mit Ehren überhäufen, dass man für seine Leistung landauf, landab seinen Namen preisen würde. Was ihm jedoch schlussendlich bei seinen Begegnungen mit chinesischen Philosophen und Astrologen, mit dem Kaiser und seinen Mandarinen, mit den Menschen auf den Straßen und an den Verkaufsständen, selbst beim Zusammensein mit den Blumen der Gesellschaft deutlich geworden war, war, dass die Liebe zu einer Frau wichtiger war als Ehre und Ruhm und Wissen. Nach fast einem Jahr, in dem er in diese exotische Kultur eingetaucht war und die Weisheit Chinas aufgesogen hatte, stand für Sebastianus fest, dass alles leerer Schein war, wenn man niemanden hatte, mit dem man seine Erlebnisse teilen konnte.
Wie es wohl Ulrika erging? Was sie wohl jetzt gerade tat? Wo mochte sie sein? War sie glücklich oder traurig? Hatte sie ihre Mutter in Jerusalem ausfindig gemacht? Eine Erklärung für ihre Visionen gefunden? Wusste sie inzwischen, was die Schicksalsgabe bedeutete und wo Shalamandar lag? Ebenso wie er sich wünschte, Ulrika könnte an seinen Erlebnissen teilhaben, hoffte er, dass sie auch an ihn dachte. Er konnte nicht hierbleiben. Er hatte ihr versprochen, wieder nach Babylon zurückzukehren – zu ihr.
»Primo zufolge wollten sie um die Mittagszeit hier sein«, murmelte er, als sie sich dem Tor der Himmlischen Harmonie näherten, das zum dichtbevölkerten Viertel im Süden der Stadt führte. Er schaute in die Sonne. Jetzt war es Mittag.
Timonides, dem die wachsende Ungeduld seines Herrn nicht entging, hätte gern etwas unternommen, um sie zu zerstreuen. Zweimal am Tag erstellte er Sebastianus’ Horoskop, aber nirgendwo war der Tag ihrer Abreise abzulesen oder wie diese Abreise vonstatten gehen würde. Müsste man vielleicht, überlegte er, hier in China die Methoden der chinesischen Astrologie anwenden? Timonides hatte mit Astrologen des Palasts die Gestirne studiert, sich mit ihrer Interpretation dieser Wissenschaft dann aber doch nicht anfreunden können, weil sie sich zu sehr von der der Griechen und Römer unterschied.
In der chinesischen Astrologie gab es zwölf Sternzeichen. Jedes stand für ein bestimmtes Tier, das sein eigenes Jahr regierte und, so schien es, die charakteristischen Eigenschaften derer, die in jenem Jahr geboren wurden, bestimmte. Darüber hinaus gab es jedem Monat zugeordnete Tierzeichen (die sogenannten inneren Tiere), ferner solche für die jeweiligen Stunden des Tages (die insgeheimen Tiere). Wenn also eine Person ein Büffel zu sein schien, weil er im Jahr des Büffels geboren worden war, konnte er auch innerlich ein Bär und insgeheim ein Drache sein. Dadurch ergaben sich mehr als achttausend Kombinationen unterschiedlicher Persönlichkeiten und jede mit einem völlig anderen Horoskop.
Viel zu verwirrend für Timonides. Er kehrte zurück zu seinen zwölf Tierkreiszeichen, seinen Tabellen und seinem Übertragungswinkel. Da sich aber keine Vorhersage abzeichnete, stellte sich ihm nach und nach die Frage, ob die Macht der Götter Griechenlands und Roms möglicherweise nicht bis China reichte.
Er hielt wieder Ausschau nach Nestor, der sich wie ein Riese von den Bürgern Luoyangs abhob, als er auf die Ecke des Gewürzmarkts zuhielt, wo über offenen Feuern Gerichte zubereitet wurden. Die fernöstliche Küche hatte Nestor keine Schwierigkeiten bereitet; er hatte sich rasch an die in China heimischen Sojabohnen und an andere kulinarische Absonderlichkeiten wie Gurken, Ingwer und Anis gewöhnt. Sogar auf andere Weise zu kochen hatte er gelernt: Da China nicht über weiträumige Waldgebiete verfügte und infolgedessen Holz immer schwer aufzutreiben war, pflegten die Chinesen alle Zutaten in kleine Stücke zu zerschnipseln, die auch über einem kleinen Feuer rasch gar wurden.
Typisch für den einfältigen Sohn des Astrologen war, dass er bereits mit exotischen Gerichten wie gebratenem Reis mit Frühlingszwiebeln, gedünsteten Taschenkrebsen und knusprigem Aal, gekochter Schildkröte mit Schinken und Lotussamen in Honig geglänzt hatte. Sein Meisterstück waren frittierte Hühnerbeine mit einer Sauce aus schwarzen Bohnen. Allein beim Gedanken daran lief Timonides das Wasser im Mund zusammen.
Jetzt aber runzelte er die Stirn, weil er sah, dass sein Sohn am Verkaufsstand des Gewürzhändlers eine Fingerspitze Pfeffer probierte. In letzter Zeit gab es an den Kochkünsten des Jungen einiges auszusetzen. Zu viel Salz,
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