Die Schicksalsgabe
bei dieser Gelegenheit auch Informationen über mögliche Rebellionen gesammelt werden sollten. Es war kein Geheimnis, dass die Xiongnu im Norden weiterhin sowohl die Han wie auch deren Verbündete, die Xiongnu im Süden, bedrohten. Obwohl Kaiser Ming mit allen möglichen militärischen und ökonomischen Taktiken versuchte, den Frieden mit den Xiongnu im Norden zu wahren, drohte er jederzeit zu kippen. Eine Demonstration von Macht und Stärke war geboten.
Als sie Edlen Fischreiher wieder entschwinden sahen, brach es aus Sebastianus heraus. »Meine Freunde, ich glaube, das ist die Gelegenheit, auf die wir so inständig gehofft haben.«
33
Zum Kampf bereit, formierte sich auf beiden Seiten des grünen Gevierts eine Hundertschaft Berittener; ihre gedrungenen Pferde, Steppentiere mit dichtem Fell, dicker Haut und für ihre Ausdauer bekannt, warteten erregt tänzelnd auf den Start. Die Reiter, angetan mit hohen Filzhüten, ledernen Hosen und Tuniken aus Schafwolle, nannten sich Tadschiken und rühmten sich, das zäheste Volk überhaupt zu sein, weil ihre Vorfahren aus einer unwirtlichen Gegend am südlichen Rand der Wüste Gobi stammten. Im Schlachtgetümmel, so hieß es, ließ ihr Kriegsgeschrei ihren Feinden das Blut in den Adern gerinnen, so dass sie bereits vor dem ersten Dolchstoß tot zu Boden stürzten.
Dennoch war es dem Vater von Kaiser Ming, dem großen Guangwu, gelungen, die Tadschiken mit seinen Streitkräften zu besiegen und sie zu Verbündeten des chinesischen Reichs zu machen.
Eine riesige Menschenmenge hatte sich auf einer Längsseite der Ebene versammelt – tadschikische Männer und Frauen, aber auch Chinesen aus Mings vielköpfigem Gefolge. Der Kaiser selbst war nicht anwesend, sondern blieb in seinem schwer bewachten Pavillon, bei seiner, wie publik geworden war, schwangeren Gattin, deren Ratgeber gewarnt hatten, dass sich, wenn sie als Zuschauer dem Kampf beiwohne, in ihrem Kind gewalttätige Charakterzüge entwickeln würden.
Es war keine echte Schlacht, die da stattfinden sollte, sondern vielmehr ein sportlicher Wettkampf, den man »Polo« nannte und den zwei Mannschaften von je hundert Reitern bestritten, die darauf bedacht waren, in rasendem Galopp mit langen Stöcken einen ledernen Ball vor sich herzutreiben.
Inmitten der lärmenden Menge, die auf den Beginn des Spiels wartete, befanden sich auch Sebastianus und seine Gefährten. Der Anführer der römischen Karawane sah sich in seiner Vermutung, warum man sie zur Teilnahme an dieser Inspektionsreise eingeladen hatte, längst bestätigt – Kaiser Ming wollte einmal mehr seine Macht demonstrieren, indem er seinen unterworfenen Volksstämmen seine »Gäste« vorführte – Männer aus dem sagenhaften Li-chien, die einem mächtigen, wenngleich weniger mächtigem Regenten als dem Herrscher über Zehntausend Jahre dienten.
In allen Provinzen, in jedem Dorf und in jeder Region, die sie besuchten, hatte sich der Kaiser, stets umgeben von Dienern und Wachen, mit seinen Ratgebern unter einem prächtigen Baldachin in den Farben Rot und Gold besprochen. Das gab Sebastianus Gelegenheit, viele fremde Menschen kennenzulernen und sich umzuhören, was an den Lagerfeuern diskutiert wurde. Auch Primo wies er an, mit einheimischen Soldaten das Gespräch zu suchen. Schon um zu erfahren, ob sich eventuell ein Aufstand gegen Kaiser Ming zusammenbraute und stolze Krieger gegen das Joch des Himmlischen Regenten aufbegehrten. Wenn ein Krieg ausbrach, wäre das ihre Chance zu entfliehen.
Als er anfangs in Betracht gezogen hatte, den Kaiser schlicht und einfach um Erlaubnis zu bitten, nach Hause ziehen zu dürfen, hatte Edler Fischreiher zu bedenken gegeben, dass eine derartige Bitte den Himmlischen Herrscher unendlich kränken würde, da es dann weltweit hieße, die Gastfreundschaft des Kaisers lasse zu wünschen übrig – weshalb sonst würden die Gäste abreisen wollen? Um sein Gesicht zu wahren, sähe sich der Herrscher von Zehntausend Jahren folglich gezwungen, seine Gastfreundschaft den Fremden gegenüber noch zu erhöhen und ihren Aufenthalt in Luoyang noch luxuriöser zu gestalten. Gefangene würden sie aber nach wie vor bleiben.
Und jetzt neigte sich die Rundreise ihrem Ende zu, morgen würden sie nach Luoyang zurückkehren. Sowohl Sebastianus wie auch Kaiser Ming wussten, dass sich der Nutzwert der Römer erschöpft hatte. Beide waren der Sensation dieses ersten Zusammentreffens zwischen Ost und West müde. Sebastianus ahnte, dass Ming froh wäre,
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