Die Schicksalsgabe
Shalamandar finde.«
Sebastianus’ Miene zeigte keine Bewegung. Ruhig sagte er zu ihr: »Ich nehme dich natürlich gern nach Antiochia mit.«
Schweigend sah sie ihn an und dachte an die vor ihnen liegenden Wochen und Monate, die sie gemeinsam reisen würden. Bis nach Antiochia war der Weg lang. Was würde das für sie bedeuten? Sie spürte, wie Sebastianus dem neuen Abenteuer und dem sagenumwobenen Reich am Ende eines unbekannten Weges entgegenfieberte. Bestimmt schenkte er ihr ab jetzt weniger Aufmerksamkeit als bisher. Und sicher wäre es klug, wenn sie sich auf ihr Reiseziel Antiochia konzentrierte, die drittgrößte Stadt der Welt und Heimstätte so vieler Götter, Tempel und heiligen Haine, in denen Antworten zu finden waren.
Keiner von beiden bemerkte, dass Kaiserin Agrippina einem Sklaven etwas zuraunte, worauf dieser zur Tür eilte, dort Primo abfing und ihn erst zurück zum Thron und von dort aus durch eine von einem Wandteppich verborgene Öffnung begleitete.
In einem Privatraum, in dem in goldenen Lampen Flammen flackerten, vernahm Primo Befehle, die sein Gesicht aschgrau werden und ihn sich wünschen ließen, er wäre nie geboren. Zum ersten Mal in einem Leben voller Hingabe und bedingungsloser Pflichterfüllung zog Primo der Veteran in Betracht, wegzulaufen und dafür zu sorgen, dass ihn niemand je wieder fand.
»Du hast deine Befehle verstanden?«, fragte Kaiserin Agrippina scharf.
»Gewiss, Herrin«, antwortete er schweren Herzens, schon weil er wusste, dass sein geliebter Meister Sebastianus Gallus in diesem Augenblick einen tönernen Sieg feierte, während Primo der loyale Freund, erkannt hatte, dass der neue Kaiser keineswegs ein großmütiger Wohltäter war, sondern ein höchst gefährlicher, wenn nicht gar tödlicher Feind.
Viertes Buch Syrien
13
Als Ulrika die Erscheinung hinter dem Schankwirt wahrnahm, der, ohne etwas zu bemerken, seinen fleckigen Tresen abwischte, setzte sie den Becher mit dem warmen Wein ab, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schenkte dem Gemurmel in der Taverne kein Gehör mehr, sondern konzentrierte sich darauf, ihre Atemzüge zu verlangsamen.
Seit sie in Neros Audienz- und Thronsaal festgestellt hatte, dass sie, wenn sie ihre Atmung unter Kontrolle brachte, auch besser ihre Visionen in den Griff bekam, hatte sie immer wieder versucht, sich auf das Luftholen zu konzentrieren, »bewusst zu atmen«, wie sie es für sich bezeichnete. Mehrere Versuche waren nötig gewesen – zwei weitere in Rom, drei auf dem Schiff während der Überquerung des Großen Grüns, ein weiterer vor diesem Abend in einer Straße in Antiochia –, um zu lernen, nicht nur langsam zu atmen, wenn sie Erscheinungen wahrnahm, sondern in einem gleichmäßigen Rhythmus Luft durch die Nase einzuziehen und durch den Mund wieder entweichen zu lassen.
Dementsprechend sog sie jetzt, an diesem regnerischen Abend, die Gerüche der Taverne ein – von abgestandenem Bier, gebratenem Lamm, die Rauchschwaden von der Feuerstelle, deren Flammen die winterliche Kälte vergessen ließen –, zog sich in sich selbst zurück, wurde ruhig und schickte eine stumme Botschaft durch den verqualmten Raum, durch den übernatürlichen Äther: »Wer bist du? Was willst du, was soll ich tun?«
Noch immer wusste sie nicht, was ihre Schicksalsgabe bedeutete. Da ihr die Visionen aber meist Menschen zeigten – Menschen jeden Alters und Standes –, nahm sie an, ihre besondere Fähigkeit sei es, mit Toten zu kommunizieren. Diese Menschen sahen wohl in ihr eine Verbindung zu ihrer Welt und versuchten, durch sie, Ulrika, in Kontakt mit Angehörigen zu treten.
Sie beobachtete den jungen Mann mit den langen Haaren und der schlichten Tunika, der den Wirt mit einem gefühlvollen Blick bedachte. Ein Sohn vielleicht? »Übermittle mir deine Botschaft«, forderte sie ihn stumm auf. Aber der junge Mann ging nicht auf sie ein, sondern löste sich wie alle vorhergehenden Visionen auf.
Enttäuscht seufzte Ulrika auf. Obwohl es ihr inzwischen gelang, dass die Visionen länger andauerten und sie auch irgendwie körperlicher und um einiges deutlicher erschienen, verflüchtigten sie sich weiterhin. Leider schaffte sie es trotz dieser Fortschritte auch noch immer nicht, Visionen herbeizurufen und aus eigener Kraft zu bestimmen, wann oder wo eine stattfand.
Die Hüterin des heiligen Hains im Rheinland hatte ihr gesagt, sie würde ihre Lehrmeister immer nur im Nachhinein, aus der Rückschau erkennen. Nun, in letzter Zeit war da nur
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