Die Schicksalsgabe
Taverne weiterhin im Auge, hoffte, Sebastianus werde jeden Moment auftauchen. Hoffentlich mit Informationen von Bessas, dem heiligen Mann.
Ihr Herz begann zu flattern. Tag und Nacht erfüllte Sebastianus ihre Sinne. Wenn sie in seiner Nähe war, wurde sie ganz unruhig, sehnte sie sich nach seiner Berührung. Noch nie hatte sie ein derartiges Verlangen verspürt. Auf der Überfahrt von Rom hatte es einmal ein Unwetter gegeben, und während das Schiff unbarmherzig von hohen Wellen hin und her geworfen wurde, hatte Sebastianus sie in seine Arme gezogen und beschwichtigt. Trotz ihrer Angst hatte Ulrika halb gehofft, er würde sie küssen und mehr noch, eins werden mit ihr, aber diese Schwelle überschritt er nicht.
Andererseits: Wie er sie anschaute, wenn er meinte, sie bemerke es nicht! Sie spürte auch, dass er ihre Berührungen genoss. Die Reise über und jetzt in Antiochia hatte sie immer wieder einen Vorwand gefunden, die Gesellschaft von Sebastianus zu suchen, und auch er schien öfter in ihrer Nähe zu sein als unbedingt nötig. Aber keiner von beiden hatte den entscheidenden Schritt gewagt oder Worte gefunden, die nicht mehr rückgängig zu machen waren. Sie wusste, dass sich ihre Wege bald trennen würden. Sie war nicht frei, und er war es auch nicht. Jedem von ihnen war ein eigenes Schicksal beschieden.
Dass sie ausgerechnet in dieser Taverne und ausgerechnet an diesem Abend einen Pfirsich angeboten bekommen hatte, eine seltene Frucht, die vor vielen Jahren von wagemutigen Karawanen aus China hierhergebracht worden war, nahm Ulrika als Zeichen, dass sich Sebastianus auf dem richtigen Weg befand.
Auch wenn sie nach einem erneuten Blick auf die steinerne Urne besorgter denn je war.
»Ich hoffe inständig, dass mein Meister Erfolg hat«, sagte Timonides, der angesichts der späten Stunde ebenfalls unruhig wurde. Hatte er den Eremiten Bessas ausfindig gemacht? Und ihm entlockt, wo sich die Kristallenen Teiche befanden? Timonides konnte sich nicht vorstellen, weshalb sein dickköpfiger junger Meister sich einbildete, ausgerechnet er könne da Erfolg haben, wo so viele andere schon gescheitert waren.
»Wenn nicht«, grummelte er und wischte mit Brot den Rest gebratener Zwiebeln und Fisch auf seinem Teller zusammen, »dann sollte mein Meister dem Kerl einfach den Kopf abreißen und dann die Information aus ihm rauskratzen!«
Das Feuer prasselte, Funken sprühten. Nestor grinste und kicherte albern vor sich hin. Sein Kinn war fettverschmiert, seine Tunika bekleckert, aber darum würde sich Timonides später kümmern. Wie immer. Nestor, dem Dreißigjährigen mit dem Mondgesicht und dem kindlichen Gemüt, musste man einiges nachsehen. Umso verblüffter war man über seine Kochkünste: Der Gastwirt hatte große Augen gemacht, als Nestor eine der Spezialitäten des Hauses, eine Delikatesse aus kleingehackten Nüssen und Honig, haargenau zubereitet hatte. Keine Frage: Er verfügte über das seltene Talent, von einer Speise eine Kostprobe zu nehmen, dann jede Zutat in genauer Menge herauszuschmecken – und daraufhin die Speise in perfekter Übereinstimmung mit dem Original zuzubereiten. Seit Jahren schon hatten Gastwirte und gutsituierte Hausfrauen immer wieder versucht, Timonides’ Sohn abzuwerben, um die Geheimrezepte der berühmtesten Köche Roms zu Hause nachkochen zu können. Aber Timonides hätte Nestor nie und nimmer ziehen lassen, nicht nur weil er selbst die Kochkünste seines Sohns schätzte, sondern weil Nestor, den der alte Grieche keineswegs als einfältig erachtete, das Zentrum von Timonides’ Universum war und obendrein ein ungemein liebenswerter Junge. Es tat nichts zur Sache, dass Nestor keine Ahnung hatte, wo sie sich gerade aufhielten oder wohin die Reise ging. Selbst die Überfahrt auf dem Schiff hatte er gelassen hingenommen, war an der Reling gestanden und hatte das Meer angefeixt. Bald würden sie noch ganz anderes zu sehen bekommen, was den unverbesserlichen Kindskopf begeistern würde.
Wenn sie nur endlich aufbrechen würden!
Timonides hatte es satt, noch länger in Antiochia zu verweilen. Mehr als einen Monat hatten sie benötigt, um endlich hier zu landen. Nachdem sie ein Handelsschiff für den Transport von Sebastianus’ Waren und Sklaven gefunden hatten, verzögerte sich die Abreise erst einmal dadurch, dass der Kapitän des Schiffes in der Nacht vor dem Auslaufen von einem bösen Traum heimgesucht worden war. Grund für eine weitere Verzögerung war eine Krähe, die auf einem der
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