Die Schicksalsleserin
Schließlich rief der
junge Mann: »Die Frau hat den Woffenberger ermordet! Der Woffenberger ist tot!«
Aller Augen suchten Madelin, die in der Tür der Werkstatt stand. Ein paar Waffen wurden gezogen. Jetzt hatte der Gerichtsknecht die Aufmerksamkeit der Männer und erklärte, was geschehen war. »Ich hatte Wache hier in der Gasse. Als ich diese Frau sah, wie sie in die Werkstatt hineinging, da hab ich mich gefragt, was so eine Gestalt wohl beim Woffenberger will. Überhaupt hab ich dort seit Tagen kein Licht mehr gesehen, und deshalb bin ich rein, wollt nach dem Rechten sehen. Und da hängt sie über ihm, wie eine Totenkrähe, die Finger noch ganz blutig!«
Madelin stellte fest, dass der Junge eine lebhafte Einbildungskraft besaß, wenn er Blut an ihren Händen gesehen haben wollte. Doch möglicherweise hatte das rote Tuch in ihrer Hand seinen Sinn getäuscht. Sie musste den Vorfällen ein Ende setzen, bevor sich das Ganze verselbstständigte. Madelin steckte das Stück Papier aus Woffenbergers Faust unauffällig in ihre Gürteltasche, trat hinaus auf die Straße und sagte laut zu den Bewaffneten: »Ich habe den Mann auch bloß gefunden, so wie der Bursche ihn nach mir gefunden hätte! Seht selbst nach - er ist schon länger tot, vielleicht seit Tagen!«
Tatsächlich gingen zwei Männer in die Werkstatt, um sich selbst ein Bild zu machen, nicht ohne Madelin wieder mit hineinzuziehen. Ihre Reaktion auf den verwesenden Leichnam war verhaltener als die des jungen Gerichtsknechtes. »Was hattest du hier zu suchen, beim Woffenberger?«, fragte einer der beiden.
Madelin zögerte. Wie sollte sie erklären, was sie dort gewollt hatte - eine mittellose Fahrende wie sie im Haus eines Kartenzeichners? Sie hätte wohl kaum etwas kaufen können. Aber sie wollte auch nicht das Kartenspiel vorzeigen.
»Sie hat keine Antwort darauf!«, sagte ein Mann, dessen Stimme Madelin vertraut vorkam. »Vielleicht ist sie eine Spionin, die für die Türken herumschnüffelt.« In der Menge, die hinter ihnen ins Haus nachgekommen war, stand der Mann mit den Glubschaugen in einer Bäckerschürze - der Mann, den Madelin bei der Hinrichtung der Türken am Fachturm getroffen hatte und den sie zurückgewiesen hatte. Er grinste sie an.
Madelins Mut sank. »Ich bin keine Spionin!«, erwiderte sie dennoch mit fester Stimme. »Ich bin auch nicht fremd hier. Ich habe früher in Wien gewohnt.« Doch auch den Namen der Mutter wollte sie nicht ins Spiel bringen.
»Was bist du dann, Weib?«, fragte der Bäcker. »Doch eine Hure?«
»Das geht Euch gar nichts an«, sagte die Wahrsagerin.
»Er ist schon länger tot, so viel ist richtig«, sprach einer der Männer, der sich über den Leichnam gebeugt hatte. Er drückte sich gewählt aus und sprach anders, als Madelin es aus der Wiener Gegend gewohnt war - vielleicht kam er aus dem Rheinischen. »Bleibt trotzdem die Frage, was du hier zu suchen hattest.«
»Ich wusste nicht, dass er tot ist. Ich bin genauso überrascht wie Ihr.« Sie versuchte vergeblich, sich aus dem Griff des Soldaten zu winden, der sie weiterhin festhielt.
»Sie lügt doch. Vermutlich wollte sie etwas klauen, und der Alte hat sie dabei erwischt!«, unterbrach sie der Abgewiesene.
»Aber er ist doch schon seit Tagen tot!«, widersprach Madelin erneut. Fieberhaft dachte sie nach. Wie konnte sie die Männer dazu bringen, ihr Glauben zu schenken?
»Woher weißt du das so genau?«, fragte der Gerichtsknecht. »Außerdem beweist das gar nichts. Mörder kehren immer zurück an den Ort des Verbrechens, das weiß doch jedes Kind!«
Madelin suchte nach Worten, doch der Bäcker unterbrach
sie. »Sie sieht aus wie eine von denen. Die Augen - und die Haare … Schaut sie doch bloß an! Sie gehört zum Feind!« Er winkte hinaus, gen Osten. »Und was man mit Spionen tut, das wissen wir doch!«
Madelin protestierte, doch die wütenden Rufe und Schreie der Männer übertönten sie. Der Rheinländer, der zuerst gesprochen hatte, trat schnell auf Madelin zu und griff sie beim Arm. Grob zerrte er sie hinter sich her. »Was tut Ihr da?«, rief sie. »Lasst mich gehen!«
Der Mann zog sie aus dem Haus. Die Wahrsagerin wehrte sich dagegen, doch der Bäcker schnappte sich ihren anderen Arm. Draußen auf der Straße schrien die Männer nach ihrem Blut. »Hier lang«, sagte der Rheinländer. »Wir müssen hier weg.«
»Was habt Ihr mit mir vor?«
Dann krachte ein Schuss direkt hinter ihnen. Die Menge verstummte sofort, und Madelin sah sich um. Hinter
Weitere Kostenlose Bücher