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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Dann lenkte er es nah an Madelin heran und sah auf sie herunter. »Wenn du nur irgendetwas für deine Mutter empfindest - und Gott weiß, dass du das solltest, denn er hat es so befohlen -, dann kämpfe gegen dein Blut. Mach ihr nicht noch mehr Schande, Meryem!«
    Madelin starrte ihn bloß an. Schließlich nickte zu Hardegg. Er wandte sich zu dem Reitersmann um, der vor Woffenbergers Werkstatttür Wache schieben sollte. »Sag deinen Leuten Bescheid, sie mögen sich wappnen und leicht bewaffnen. Ich brauche euch später noch, um die Landsknechte aus der Bibliothek zu vertreiben. Der Kanzler wird Gift und Galle speien, wenn er davon Wind bekommt.« Damit gab er dem Tier die Sporen und trabte langsam davon.
    Madelin atmete ein paarmal tief durch, dann trat sie den Rückweg nach Sankt Ruprecht an. Dort wusste sie wenigstens, dass sie sicher war.
     
    Wenige Stunden später betrat Madelin den Neuen Markt im Süden der Stadt. Der Platz mit den hohen und hellen Steingebäuden diente den Soldaten und Landsknechten als Bereitstellungsplatz. Hier mussten sie im Falle eines Alarms zusammenkommen und sich für den Einsatz bereithalten, hier erhielten sie ihre Befehle. Auch der Nachschub wartete am Neuen Markt darauf, vorangeschickt zu werden, um die Reihen der Männer an der Mauer aufzufüllen, wenn zu viele gefallen waren. Unter aufgespannten Zeltplanen standen unter schwerer Bewaffnung Kisten mit Kugeln, Zündkraut und Pulverfässer bereit, aus denen sich die Knechte bestücken konnten.
    Ein paar geschäftstüchtige Händler hatten dazwischen ihre Stände aufgebaut, um Lebensmittel zu Wucherpreisen zu verkaufen.
Die Menschen mussten essen, und so herrschte hier selbst in den frühen Abendstunden ein großes Gedrängel. Die junge Frau schob sich durch die Massen und begutachtete die Auslagen. Dabei kehrten ihre Gedanken unweigerlich zu dem Ereignis des Nachmittags zurück.
    Sie war zu Woffenberger gegangen, um Antworten zu erhalten, was es mit ihrem Kartenspiel auf sich hatte. Jetzt hatte der Mann sein Wissen mit ins Grab genommen. Madelin hielt inne. Spielkarten waren keine Seltenheit - viele Landsknechte besaßen einen eigenen Stoß. Doch die meisten waren relativ schlicht gestaltet. War es nicht merkwürdig, dass eine so kostbare und gold bemalte Ausgabe, die ihrer eigenen so sehr ähnelte, in einer belagerten Stadt verfügbar gewesen war?
    Als sie gerade in die Kärntner Straße einbiegen wollte, schallte eine Stimme mit Alarmrufen über die Stadt. Sie blickte hinauf zum Stephansturm. Der Posten dort oben hatte ein Sprachrohr, mit dem er Nachricht nach unten geben konnte. Madelin sah sich um, doch sie erkannte nichts Ungewöhnliches. Dann donnerte eine Kanone, und sie zuckte zusammen. Inzwischen sollte sie sich doch eigentlich daran gewöhnt haben, dass es andauernd knallte.
    Doch nach dem ersten Donner folgte ein zweiter. Dann ein dritter - Madelin bedeckte die Ohren mit den Händen. Als die fünfte und sechste Kanone erschallte, stellte sie fest, dass die Schüsse hier im Kärntner Viertel viel lauter klangen. Vor dem Tor stieg Dunst auf.
    Hinter ihr begannen auf dem Neuen Markt die Landsknechte Eck von Reischachs durcheinanderzulaufen. Sie schubsten und drängten sich durch die Menge, schrien dabei, um die Marktgänger zu vertreiben und selbst zu ihren Sammelpunkten zu geraten. Madelin lief weiter in die Kärntner Straße, weg aus dem Chaos. Sie wollte zum Bürgerspitalkeller, um sich im
Schatten des Gebäudes vor den Kugeln der Osmanen zu schützen. Doch sie kam nicht so weit.
    Die Kanonenkugeln zertrümmerten Stein und Balken wie dürres Geäst. Madelin hörte über sich einen Dachstuhl krachen. Dann schlug etwas mit voller Wucht in die Mauer der Mehlgrube, eines Mehl- und Kornspeichers vor ihr. Steinsplitter und Ziegel spritzten über die ganze Straße. Endlich erreichte Madelin die Hauswand und drückte sich zitternd dagegen. Es war lebensmüde hierzubleiben - im Norden, an der Donauseite Wiens, wäre es viel sicherer! Die Osmanen griffen das Kärntner Tor an. Sie musste hier weg.
    Madelin drehte sich um, nahm die Röcke in die Hand und lief in die entgegensetzte Richtung. Kaum war sie ein Dutzend Schritte die Straße hinuntergelaufen - dabei hielt sie sich so nahe an den Häusern wie möglich -, da hörte sie einen Einschlag und Schreie hinter sich - ganz nah.
    Madelin ließ sich auf das Pflaster fallen. Erst dachte sie, die Kugel sei gesplittert, denn kleinere dunkle Steine schossen als eigenständige Geschosse

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