Die Schicksalsleserin
stand? War sie selbst, Madelin, diese Hohepriesterin - immerhin eine Frau mit dem Gespür für Glauben und Schicksal? Sie wollte es gerne annehmen.
Als sie die nächste Karte zog, hielt sie den Atem an. Erst die Wahrsagerin und dann die Liebenden? Ein Mann mit Hut und eine Frau mit grünem Handschuh gaben einander die Hand, darüber thronte ein Engel mit verbundenen Augen auf einer Säule. Er hielt zwei Speere in der Hand. Sie hatte die Karte schon einmal in der Hand gehabt und gesehen, dass Speere und Säule ein wenig anders aussahen, als bei ihrem alten Spiel, doch der Aufbau des Bildes war derselbe.
Dann zog sie den Tod. Ein Hautskelett mit hohlem Bauch stand auf einer Wiese vor blauen Bergen. In der Hand trug er einen Bogen, der aus zwei menschlichen Rückgraden gebaut schien. Das goldene Muster des Hintergrundes schimmerte im Licht. Madelin legte auch diese Karte ab und versuchte sich einzureden, dass das auch ein symbolischer Tod sein könne, das Ende eines Lebensabschnittes und der Beginn eines neuen. Jetzt vermisste sie schmerzlich die Gewissheit, die sie sonst beim Wahrsagen immer verspürt hatte.
Sie wandte sich der nächsten Karte zu und hielt inne. In ihrer Hand lag der Teufel. Ein Ungetüm mit Hühnerbeinen, Dämonenflügeln, und einem Ziegenkopf mit Gesicht, das zwei Menschen im Maul hielt. Seine Wampe stellte selbst ein trauriges Gesicht dar. Madelin legte die Karte ab, die für Verrat und Intrigen stand. Zog jemand hinter Lucas’ Rücken irgendwelche Fäden? Eine böse Ahnung beschlich sie.
Klopfenden Herzens zog Madelin die letzte Karte aus dem Stapel. Bislang war es ein Blatt, das so viel Gutes wie Übles für den Studenten bereithielt. Die fünfte Karte würde ihr zeigen, ob alles gut enden würde - oder ob Lucas wirklich Schlimmes bevorstand. Sie drehte die Karte um und schluckte. Sie hielt den fallenden Turm in Händen. Eine Stadtmauer mit verrammeltem Tor war darauf abgebildet. Schießscharten und Zinnen führten hinauf zu einem hohen Gebäude, das über den Steinen thronte. Wie der Turm von Babel, der durch den Hochmut der Menschen fiel, stand dieser in Flammen, von allen Seiten bedroht von Feuer. Zwei Männer waren im Sturz vom Turm abgebildet, sie standen kurz vor dem Aufprall. Der eine trug einen Bart und bunte Kleider. Der andere besaß wildes blondes Haar.
Madelin drehte alle Karten um, so dass sie die Bilder nicht länger betrachten musste, und mischte sie wieder hastig unter
die anderen. Liebe, Tod, Verrat und schließlich Chaos und Fall - sie wollte davon nichts mehr wissen.
Sie suchte die Hohepriesterin aus dem Kartenstoß und betrachtete sie bedrückt, denn sie erkannte sich darin unverkennbar wieder. Was war, wenn sie ihre Gabe für immer verloren hatte? Oder schlimmer noch: Was, wenn sie sich nur eingebildet hatte, eine Gabe zu besitzen? Wenn all das bloß Lügen waren, die sie sich und anderen so viele Jahre erzählt hatte? Zum ersten Mal stellte Madelin infrage, ob das Schicksal in den Karten wirklich eintreten würde - oder ob das alles nur Zufall war. Der Gedanke war lähmend.
Liebevoll strich sie über das Bild der Hohepriesterin. Das Kreuz auf dem Stab, den diese in Händen hielt, erinnerte sie ein wenig an das Kreuz auf dem Südturm des Stephansdoms, auf dem sie noch vor wenigen Stunden gestanden hatte. Das war anders als in ihrem alten Spiel - sie hätte sich früher bestimmt geärgert, wenn diese Karte, die ihr die liebste von allen gewesen war, sie ständig an Wien erinnert hätte.
Madelin runzelte die Stirn. Das Kreuz ähnelte dem auf dem hohen Turm des Stephansdoms nicht bloß. Es glich jenem exakt wie ein Haar dem anderen! Jetzt fiel ihr auch auf, dass der goldfarbene Hintergrund anders aufgebaut war als auf derselben Karte in ihrem alten Spiel. Wenn sie die Linien, die vom Kreuz ausgingen, weiter über den Schoß der Hohepriesterin nach unten verfolgte, dann ergaben sie einen Umriss von Sankt Stephan! Der Faltenwurf des Gewandes der Frau barg Striche, die aussahen wie römische Zahlen. Und der Titel des Buches, den die Hohepriesterin in Händen hielt, war nicht die Bibel, sondern eine weitere Ziffer.
Jetzt wurde die Wahrsagerin neugierig. Sie nahm sich das liebende Paar aus dem Stapel und untersuchte die Striche und Malereien auch hier. Die Säule, auf der Amor über dem Paar
thronte, war viel massiver als die in ihrem alten Spiel. Mit ein bisschen Einbildungskraft könnte sie wohl den Turm am Kärntner Tor darstellen, oder den Schwarzen Turm am Stubentor
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