Die Schicksalsleserin
Schritte zurückgetaumelt und rang um Luft. »Herr Woffenberger?«, presste sie hervor, bevor sie sich ihr rotes Tuch vom Kopf zog und es sich vor den Mund legte. Dann ging sie weiter durch die Kammer in den Treppenflur, in dem eine zweite Eingangstür wohl in den Hinterhof führte.
Und da lag, zu ihrer Linken, der Körper von Meister Woffenberger. Die Leiche stank und fing bereits an zu verwesen. Das getrocknete Blut auf seinem Kopf war schwarz vor Fliegen. Die Wahrsagerin erschauerte und bekreuzigte sich, sagte man doch, die Insekten seien Abgesandte des Teufels.
Das Gesicht des Toten glich einer wächsernen Maske. Kopf und Schultern ruhten auf den untersten Stufen in das obere Geschoss. Sein Schädel, der an mehreren Stellen aufgeplatzt war, wies ein tiefes Loch auf. Die Waffe, mit der er wohl getötet
wurde, lag direkt neben der Leiche: ein kleiner Hammer, ebenfalls dunkel verkrustet.
Madelin starrte auf den Anblick, der sich ihr zu Füßen bot. Wie lange er wohl schon so hier lag? Der Angriff war offensichtlich schon mehrere Tage her. Aber warum sollte jemand einen Kartenzeichner erschlagen? Hatte er Plünderer überrascht? Oder hatte jemand das Chaos in der Stadt genutzt, um eine alte Fehde auszutragen oder Rache zu üben? Beide Gedanken waren gleich bedrückend. Und warum hatte ihn bislang niemand gefunden?
Die Wahrsagerin nahm sich das Tuch vom Gesicht und rieb sich Wangen und Augen. Doch sogleich bereute sie es, denn der Gestank war unerträglich. Gerade als sie sich abwenden wollte, fiel ihr Blick auf seine Hand. Hielt er sie noch zur Faust geballt, weil er sich gegen den Angreifer hatte wehren wollen? Ein kleiner heller Fetzen lugte aus der Hand hervor. War das ein Stück Stoff?
Die Wahrsagerin nahm ihren Mut zusammen, griff sich ein Stück Papier, damit sie den Körper des Toten nicht berühren musste, und versuchte, die Faust zu öffnen. Erstaunlicherweise gelang ihr das recht leicht - sie hatte damit gerechnet, dass die Totenstarre ein Bewegen seiner Gliedmaßen unmöglich machen würde. Stattdessen fühlte sich die Haut selbst durch das Papier hindurch weich und widerlich an. Madelin rang nach Luft, um sich nicht übergeben zu müssen. Dann hatte sie das Etwas endlich aus der Faust des Kartenzeichners gelöst. Es handelte sich um ein Stück Papier. Mit ein paar Strichen des Daumens glättete sie die Falten und blickte auf … Was war das? Sie konnte es nicht entziffern. Über einer geschwungenen Linie aus schwarzer Tinte fanden sich zwei winzig klein gemalte Gebäude, vermutlich Kirchen oder Klöster. Die Schrift neben dem einen, das ganz zu sehen war, konnte Madelin mit
bestem Willen nicht lesen - sie war winzig und verschmiert. Die Zeichnung der anderen Kirche war nicht vollständig, genau wie deren Beschriftung: Madelin las: » Zuo sand mic …« Das letzte Wort könnte auch ›nic‹ heißen. Ihr Blick glitt wieder und wieder über die schwarzen Striche auf dem hellen Papier. Dann plötzlich hörte sie ein Keuchen aus der Werkstatt.
Madelins Herz setzte einen Schlag aus, als sie den Kopf wandte und zur Eingangstüre hinübersah. Dort stand ein junger Mann, der Bewaffnung nach kein Söldner, aber auch kein Soldat - vielleicht ein Gerichtsknecht. Er blickte reglos zu ihr hinüber. Aus seiner Perspektive konnte er allerhöchstens die Beine des Toten am Boden sehen. In seinen Augen war sie sicherlich eine Fremde, die er in flagranti erwischt hatte bei einem hoch angesehenen Handwerker, der nun niedergestreckt, leblos auf seinen Holzdielen lag … Sie stand auf, kam jedoch nicht dazu, ihre Unschuld zu beteuern, denn ihre Bewegung riss den jungen Mann aus seiner Schreckstarre heraus.
»Mordio!«, schrie er aus voller Kehle, wandte sich um und brüllte »Mörderin!« auf die Straße. Seine Stimme überschlug sich dabei.
Schnell hatte die Wahrsagerin ihre Panik überwunden. Sie machte zwei Schritte an dem Körper vorbei zur Hintertür und rüttelte daran. Die Tür schien nicht versperrt zu sein, ließ sich aber auch nicht öffnen. Irgendetwas lehnte wohl von draußen dagegen. Also entschloss sie sich, dem Mann die Situation zu erklären. »Ich habe ihn gerade erst gefunden!«, rief sie, doch der Bursche stand vorm Haus und rief die Leute zusammen.
»Der Mann ist doch längst verwest!«
Doch der Lärm der Männer, die sich draußen sammelten, übertönte ihre Stimme. Es handelte sich um Reitersoldaten und Bürgersleute, die versuchten, aus dem Gerede des Burschen herauszufinden, was geschehen war.
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