Die Schicksalsleserin
über die Straße. Sie rissen tiefe Löcher in Häuserwände und Dachvorbauten hinein. Einem Mann, der sich nicht mehr hatte ducken können, zertrümmerte es den Brustkasten. Endlich bedeckte Madelin die Augen mit dem Arm.
Keinen Augenblick zu spät, denn den Steinen folgte eine Welle aus Erde und Sand, die über die Flüchtenden hinwegfegte wie ein Sandsturm. Madelin hustete und rang um Luft, doch sie rührte sich nicht, bis sich der Staub gelegt hatte.
Die Kanonen feuerten weiter. Sie erhob sich wankend, schüttelte den Dreck ab und stützte sich an der Wand ab. Sie war unversehrt und nicht getroffen worden. Ihr Blick fiel auf einen Soldaten, der einen Splitter abbekommen hatte.
Der Winkel des Aufpralls der Kanonenkugel war so schräg
gewesen, dass sie das Gerölle, mit dem die Straßen belegt war, in einen Hagel tödlicher Geschosse verwandelt hatte. Kirschbis faustgroße Steine steckten in der Wand und im Brustkorb des Toten vor ihr.
Madelin raffte wieder die Röcke und begann zu laufen. Sie stolperte, fing sich, lief weiter. Ihre Füße fühlten sich an wie Blei. Nach ein paar Dutzend Schritten fand sie den Rhythmus wieder, und am alten Rossmarkt vor Sankt Stephan rannte sie bereits, so schnell sie konnte. Sie wollte weg vom Hagel der Kanonen, der noch immer über der Stadt niederging.
Hinter sich hörte Madelin noch einen Einschlag. Plötzlich erinnerte sie sich an den fallenden Turm, den sie vorhin für Lucas gezogen hatte. Vielleicht hatte sie ihre Gabe doch nicht verloren. Vielleicht waren die Karten auch nicht für Lucas gewesen, sondern für sie selbst oder gar für ganz Wien. Wenn dem so war, dann lägen noch der teuflische Verrat, der verwandelnde Tod und der Fall einer Stadt in der Zukunft.
Zum ersten Mal in ihrem Leben betete Madelin darum, dass ihre Karten gelogen hatten.
KAPITEL 13
S chleier aus heller Seide streiften Christoph, als er unter dem Baldachin hindurch ins Innere des Palastzeltes trat. Kühl und weich streichelte der Stoff seine Haut und verbreitete den Duft von frischem Jasmin. Auch eine exotischere Note hing darin, sinnlich und schwer. Über all dem lag ein Hauch erfrischender Zitrone. Christoph blieb stehen, er konnte nicht anders. Das Gefühl war unbeschreiblich weich und rein. Unwillkürlich führte der Mann die Hand zur Nase und schnupperte daran - der Stoff hatte ihm einen Teil seiner erhabenen Duftmischung auf der Haut hinterlassen. Es erinnerte ihn an das heimatliche Wäscheleinen, wie es frisch gewaschen im Sonnenlicht getrocknet war.
Merkwürdig - Christoph hatte seit Jahren nicht mehr an das Haus des Vaters in der Nähe von Reichenbach gedacht, in dem er aufgewachsen war. Welche Zauberkünste mochten in einem Duft liegen? Seine Hand fuhr instinktiv unter das Hemd und tastete nach dem Medaillon des heiligen Georg, das auf seiner Brust lag. Sein Vater hatte ihm das Schmuckstück gegeben, damit er gegen alle Ängste gewappnet wäre. »Georg hat den Drachen getötet«, hatte der Vater damals gesagt. »Er steht dir gegen alle Feinde bei, sichtbare wie unsichtbare. So musst du dich nie mehr fürchten.« Und tatsächlich hatte ihm das Medaillon geholfen, wenn der Vater wie so oft nicht da gewesen war. Es kam ihm albern vor, doch auch jetzt stärkte der Heilige seinen Mut für das, was hier auf ihn warten mochte. Christoph schob die Erinnerungen beiseite und ging voran.
Heute war der Abend des dritten Oktober. Die Kälte hatte
das Lager der Osmanen heimgesucht, doch der Bannerträger hatte Decken und sogar einen kleinen Ofen für das fürstlich große Zelt bekommen, das er sich mit Tannhardt und Janos teilte. Nun hatte der Sultan ihn endlich zu sich rufen lassen, um mit ihm zu speisen.
Ein perlendes Lachen drang gedämpft an sein Ohr, begleitet von einem leisen Klingeln. Die Stoffe, die das riesige Zelt in mehrere Kammern unterteilten, wurden dicker und fester - er tastete danach und stellte fest, dass das Gewebe geknüpft war: Weiche Teppiche hielten die Kälte fern und sorgten für eine prachtvolle Atmosphäre. Drang er hier ins Reich der Nymphen und Faune vor, von denen die Mutter ihm seinerzeit aus griechischen Schriften erzählt hatte? Die Alternative war nicht weniger verlockend, aber weitaus beängstigender: dass er in die Hölle ging, zu den Teufeln und Hexen. Er zwang sich, auch diesen Ängsten ins Gesicht zu sehen, denn sie waren bloß Zeugnis seiner lebhaften Einbildungskraft.
Die Schleier aus Seide, unter denen Christoph jetzt durchtauchte, nahmen immer tiefere
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