Die Schicksalsleserin
… und wieder sah sie Ziffern. Wie sie zuvor schon gesehen hatte, standen Amors Pfeile in einem anderen Winkel zueinander und wiesen auf die Ränder zu.
Madelin blickte auf. Was hatte das zu bedeuten? Wenn die Karten den alten doch so ähnelten, dass selbst die Gesichtszüge der Figuren dieselben zu sein schienen, dann musste dieses Trionfi-Spiel demselben Druckstock entstammen. So weit sie wusste, veränderte man einen solchen Druckstock nicht einfach so, er war in Metall geätzt und damit unveränderlich. Wie erklärte sich dann, dass Teile der Karten sich so deutlich unterschieden? Ob sich jemand nachträglich an den Bildern zu schaffen gemacht hatte? Und wenn dem so war - zu welchem Zweck war das geschehen?
Entschlossen sammelte Madelin die Karten wieder ein, schlug sie sorgfältig in das Wachstuch und verstaute sie in ihrer Gürteltasche. Sie würde die Antworten auf diese Fragen nicht finden, indem sie die Bilder anstierte. Wo hatte Lucas das Spiel noch her? Er hatte etwas von einem Kartenzeichner in der Gasse gegenüber der Hohen Schule erzählt. Das musste in der Nähe des Basiliskenhauses sein. Wenn jemand wusste, was es mit den Zeichnungen und Symbolen auf sich hatte, dann doch wohl dieser Mann. Und danach würde sie Franziskus’ Meinung einholen. Immerhin war er als Ikonenmaler vom Fach, was Malerei und Zeichnungen anging. Sie ließ ein wenig Geld auf dem Tisch und trat durch die bogenförmige Hofdurchfahrt aus dem Gelben Adler auf die Straße.
Draußen schien die frühe Nachmittagssonne in die Gassen Wiens und erwärmte die Mauern ein bisschen. Der Tag war klar und kühl. Madelin schlang sich das Tuch enger um den
Kopf, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Sie eilte über den Fleischmarkt vorbei an Sankt Laurenz auf der einen und der Kodrei Goldberg auf der anderen Seite in Richtung Universität.
Auf dem Eck bei den Predigern vor dem Collegium ducale , dem Hauptgebäude der Universität, hielt sie inne. Von hier aus konnte sie sowohl die Nova structura als auch das Bibliotheksgebäude der Universität sehen. Dem Kommen und Gehen nach hatten sich hier wie in vielen anderen Gebäuden Landsknechte eingenistet, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Was wohl die Magister und Professoren bei ihrer Rückkehr dazu sagen würden? Doch vielleicht kehrten die studierten Herrschaften ja sowieso nur zu einem Häuflein Asche zurück.
Sie ignorierte die Rufe und Pfiffe der Soldaten und bog in die Gasse, die zum Heiligenkreuzerhof führte. Schließlich stand sie vor der Werkstatt eines Kartenzeichners und hoffte, dass es der richtige war. Schräg gegenüber lag die Lammburse, ein Studentenhaus, das offenbar seit Belagerungsbeginn genutzt wurde, um einen Teil der Reiterei der Reichshilfe zu beherbergen - die Männer hatten das Wappen des Pfalzgrafen Philipp bei Rhein an die Tür gehängt. Madelin schob die Tür der Werkstatt auf und trat ein.
Innen roch es muffig und abgestanden. Beidseitig an den Wänden standen Regale mit Werkzeugen und Tintenfässern. Stirnrunzelnd stellte Madelin fest, dass Meister Woffenberger, wie das Schild über der Tür verkündet hatte, kein sonderlich ordentlicher Mann zu sein schien. Auf dem Boden lagen leere Papierrollen, fertig gezeichnete Karten und Skizzen sowie Pergamente alter und neuer Natur. Ein dunkler eingetrockneter Tintenfleck hatte sich auf dem Holzboden ausgebreitet. Anderswo fand sich ein Häuflein verstreuter Farbpigmente.
Die Fahrende schlängelte sich auf Zehenspitzen durch das
Durcheinander. Zwei Schreibpulte standen in der Werkstatt, doch die Fächer waren leer. Der Inhalt war herausgeräumt und lag auf dem Boden. Schließlich hielt sie vor dem dicken Ledervorhang, der im hinteren Bereich einen Ausgang aus der Werkstatt zu bergen schien. Möglicherweise ging es hier in den Wohnbereich Meister Woffenbergers.
»Gott zum Gruße«, sagte sie laut, denn in diesen Zeiten sollte man niemanden in seinen eigenen vier Wänden überraschen, ohne sich angekündigt zu haben. Im besten Fall wurde man als Plünderer verhaftet, im schlechtesten gleich mit einem Schwert empfangen. Von den Wiener Bürgersleuten waren viele sehr wehrhaft - mit der Bedrohung vor den Mauern dürfte sich das nicht gebessert haben.
»Meister Woffenberger?«, rief sie und schob den Ledervorhang auf. Der Gestank, der ihr entgegenschlug, trieb ihr die Tränen in die Augen und ließ sie würgen. Süßlich, abgestanden, zugleich unerträglich und widerwärtig drang er in ihre Nase.
Madelin war ein paar
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