Die Schicksalsleserin
Pernfuß’ Worten vertrauen? War Leonhard Steinkober ein wildes Tier gewesen, das man hatte töten müssen, damit es nicht noch mehr Schaden anrichtete? Lucas mochte das nicht glauben.
Er griff sich den schweren Sack und trug ihn die Treppe in Hofers Wohnhaus hinauf. Die Werkstatt hinter der Treppe war verwaist. Er stapfte hinten hinaus in den Hof, wo bereits ein großer Berg Erdreich angeschüttet war. Daneben stapelten sich Ziegel. Ein Blick nach oben bestätigte Lucas’ Verdacht: Hofers Dach war abgedeckt worden. Nun standen da oben Kanonen.
Der Student lud den Inhalt seines Beutels auf den Berg und kehrte ins Haus zurück, denn die Finger schmerzten schnell vor Kälte. In der Stube hielt er inne. Das Haus glich einem Dreckstall. Herausgefallene Erde sowie die Stiefel vieler Helfer und der Geschützmannschaften hatten eine verschmierte Kruste auf dem Holzboden hinterlassen. Das Dach war ruiniert und müsste neu gedeckt werden, und der Keller wurde gerade um einen Gang gen Stadtmauer erweitert. Lucas erkannte, wie viele Opfer Wilhelm Hofer diesem Kampf brachte - und das nur auf den Verdacht hin, dass die Aussage des Überläufers stimmte.
Die Tür knarrte. »Was machst du denn hier?«, fragte Georg Hofer, der Sohn des Alten, unfreundlich. Er sah müde aus und trug sein Schwert.
»Ich grabe mit deinem Vater einen Gang, um die Minen des Feindes zu finden.«
»Das weiß ich, aber warum ist mir der Herr Vater dann gerade fuchsteufelswild entgegengekommen?«
»Wir sind aneinandergeraten.«
Georg sah aus, als wolle er darauf etwas sagen, doch dann schwieg er.
»Was ist an den Mauern draußen passiert?«, fragte Lucas.
»Die Feinde haben das Kärntner Tor angegriffen. Aber sie wurden zurückgeschlagen. War wieder nur einer dieser Provinzherrscher, sagen die Hauptleute. Kein echter Angriff des Großwesirs.«
»Sie stehen schon eine Woche vor den Toren«, murmelte Lucas. »Worauf wartet Ibrahim Pascha denn noch?«
Georg zuckte mit den Schultern und wollte sich an ihm vorbei zum Hof durchdrängen. Lucas seufzte. »Hör mal, Georg, ich finde, wir sollten …«
»Sollten was - Frieden schließen?« Der ältere Mann schnaubte. »Du solltest dich ihm gegenüber besser benehmen. Nach all dem …«, er verstummte. Dann winkte er ab und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
Lucas sah ihm nach. Mit diesen Leuten ließ sich nicht reden. Er beschloss, Bernhard beim Graben abzulösen. Als er die Treppe hinunterging, hörte er, wie jemand das Haus betrat - vermutlich war es Thomas, der bald mit Hofer die nächste Schicht übernehmen würde.
Im Keller angelangt hockte sich der Student vor das Loch in der Wand und starrte hinein. Der Tunnel, den sie gegraben hatten, war selbst unter der fachmännischen Anleitung der beiden Bergleute weder gerade noch eben geworden. Lucas hatte sich bei der ungewohnten Anstrengung des Grabens auch nicht wirklich darum bemüht, eine Richtung oder eine Ebene beizubehalten. Das Ergebnis war ein sich stets ein wenig nach oben windender Gang, dessen Boden kleinere Absätze hatte, wie Stufen einer Treppe. Thomas und Bernhard hatten dann versucht, die Steigung wieder auszugleichen, so dass ein Auf und Ab entstanden war.
Im Augenblick war Bernhard gerade dabei, sich im Schein der kleinen Laterne weiter mit der Schaufel in die Wand zu hacken. Lucas fragte sich, wie der Mann die Richtung beibehielt,
oder woher er das Gefühl nahm, wie tief oder wie ebenerdig er im Augenblick graben musste. Die Richtung der Mauern zu treffen war schon schwer genug. Unterirdisch gar Plätze oder Gebäude zu finden, wäre doch sicher nicht ohne weiteres machbar, oder?
Lucas betrachtete den Gang missmutig. Er fürchtete mehr denn je die Enge und die Dunkelheit. Der Gedanke, dass sie hier vielleicht ganz umsonst gruben, während oben die wahre Arbeit zur Verteidigung Wiens geleistet wurde, bedrückte ihn. Die Entscheidung zum Graben der Gegenminen hatte einzig und allein von seinem Wort abgehangen. Was, wenn er sich wirklich geirrt hatte?
Der Student spähte in den Gang, denn Bernhard hatte aufgehört zu graben und kam jetzt herausgekrochen. »I kann nimmer!«, keuchte er und reichte Lucas die Schaufel.
»Gehst’ nicht weg, bitte schön?«
»Na, i bleib scho.«
Lucas kroch in die Mine, seine Schultern berührten an beiden Seiten die unregelmäßige Erdwand. Am Ende richtete er sich auf, so weit die niedrige Decke das zuließ, holte tief Luft und schippte das Erdreich mit der Schaufel fort, bis ihm der Schweiß auf
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