Die Schicksalsleserin
den Gang nicht abzustützen! Sie hatten ihm versichert, das Erdreich unter Wien sei so feucht und fest, dass es nicht zu Einstürzen kommen würde. Was da vorhin auf ihn eingerieselt war, war teilweise aber überhaupt nicht feucht gewesen, im Gegenteil - es hatte sich um trockenen Sand gehandelt.
»Was war das, verdammt? Ich dachte, die Gänge seien sicher!«
»War halb so schlimm, Bürschlein. Sieht aus, als wärst du gegen eine Sandtasche gekommen, da ist nicht wirklich etwas eingestürzt. Der Gang ist jedenfalls noch sicher. Stell dich nicht so an, immerhin sagt Bernhard, dass du Recht gehabt hast mit den Minen. Wir brauchen hier unten mehr Leute zum Graben.«
»Halb so schlimm?« Lucas versuchte, sich zu beruhigen. Doch allein der Gedanke, wieder in die Mine kriechen und weitermachen zu müssen, sandte ihm Schauer über den Rücken. Nein - er musste hier raus. In diesem Leben würden ihn keine zehn Pferde mehr in einen Keller wie diesen zurückschleifen können, das schwor er sich.
KAPITEL 15
A m vierten Oktober hatten die Wiener die Kanonen ihrer Feinde mehr als fürchten gelernt. Seit eineinhalb Tagen feuerten die Osmanen aus allen Rohren, die sie um die Ringmauer aufgestellt hatten, und hörten auch in der Nacht nicht damit auf. Der Krach war entsetzlich, und das beständige Feuern ließ die Menschen in Wien vor Furcht kaum noch auf die Straßen gehen.
Und während die Landsknechte und Soldaten ihrerseits die Mauern verteidigten und die Kanonen bemannten, die auf den Zinnen und Türmen Wiens aufgestellt waren, arbeiteten Bürgerwehr und Daheimgebliebene daran, die Stadt vor den einschlagenden Kugeln zu schützen, so gut es ging. Das Gerölle auf den Straßen wurde abgetragen, die Ziegeldächer vieler Häuser ebenfalls.
Auch Madelin und ihre Freunde packten bei diesen Arbeiten mit an - wenn sie konnten, denn jemand musste im Ruprechtskirchhof bei den Karren bleiben und bei Franziskus. Sie hatte vorgestern, noch ganz aufgewühlt von dem Leichenfund und dem Kanonenbeschuss, mit ihm sprechen wollen, doch der Ikonenmaler hatte einen neuerlichen Anfall erlitten. Sie hatte den Rest der Nacht und den halben gestrigen Tag an seinem Bett ausgeharrt - nur um heute Morgen wieder hilflos mit ansehen zu müssen, wie er von dem Zucken überkommen wurde. Es schien beinahe, als würde sich Franziskus’ Zustand in Wien noch verschlimmern. Sie selbst fühlte wieder die alte Rastlosigkeit in sich aufsteigen, musste sich aber vertrösten. Wer wusste schon, wann sie wieder den Horizont über einer Straße sehen würde?
Am Mittag ging sie zum Feldlazarett bei Sankt Peter und fragte nach einem Physicus. Dort fanden sich bloß Feldscher, die sich mit Schnittwunden und Brüchen auskannten, nicht aber mit Krampfanfällen. Einer empfahl ihr gar einen Priester. Wenn sie nicht vorsichtig wäre, dann sprach sich die »Besessenheit« ihres Freundes noch herum.
Die junge Frau tupfte dem erschöpften Freund den Schweiß von der Stirn. Er schlief jetzt ruhig, und sie war dankbar dafür. Vorhin war er so wütend gewesen, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie stieg aus dem Karren und streckte die Glieder. Ob Lucas heute nicht kommen würde? Er hatte als Gerichtsknecht sicher viel zu tun - man erzählte sich von Plünderungen und Streitereien. Sehnsüchtig sah sie den Kienmarkt hinunter. Sie hatte sich so an seine morgendlichen Besuche gewöhnt, die er die letzte Woche aufgenommen hatte, dass sie ihn vermissen würde, wenn er nicht käme. Sie musste schon lächeln, wenn sie bloß an ihn dachte, so wie jetzt.
Die Nachmittagssonne stand im Westen, doch Madelin hatte nicht den Eindruck, dass viel von ihrer Kraft bis nach Wien durchdrang. Dabei stand kein Wölkchen am Himmel. Im Süden krachten wieder die Kanonen. Nachdem die Landsknechte gestern die Osmanen vom Kärntner Tor abgewiesen hatten, rechnete man heute jederzeit damit, dass dem Kanonenfeuer ein weiterer Angriff folgen würde. Bislang hatten sich keine Truppen sehen lassen, doch innerhalb der Mauern waren die Verteidiger stets in Alarmbereitschaft.
Madelin ging hinter die Karren, wo die Pferde in einem improvisierten Pferch aus den Holzgabeln der Karren und aufgespannten Seilen standen. Hier waren sie am besten vor dem eisigen Wind geschützt. Sie legte ihrer alten braunen Mähre die Hand auf die weichen Nüstern. Das Tier trat unleidig von
einem Bein auf das andere und spielte mit den Ohren. »Dir ist kalt, was?«, fragte die junge Frau und fuhr mit der Hand unter die
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