Die Schicksalsleserin
sollen, warum und von wem sie angefertigt worden sind.«
»Auf ein paar Fragen werden wir möglicherweise Antworten finden. Ansonsten werden wohl eher nur noch mehr Fragen auftauchen«, sagte der Ikonenmaler.
»Wir brauchen ein Buch über die Geometrie«, erläuterte Madelin.
»Und ich eines über die Ursachen der Fallsucht«, sagte Lucas.
»Meinst du, das wird uns weiterbringen?«, fragte ihn Franziskus. Man sah ihm an, dass er keine große Hoffnung hegte -
oder hegen wollte. Madelin kam der Verdacht, dass er sich vor einer neuerlichen Enttäuschung schützen wollte.
»Das kann ich dir erst sagen, wenn ich das Buch gelesen habe«, erwiderte Lucas. Auch er wirkte bedrückt. »Madelin, du bist also der Meinung, dass Woffenberger wegen der Trionfi-Karten getötet wurde?«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich fürchte schon, Lucas. Aber es gibt nichts, womit ich das beweisen könnte.«
Der Student stierte auf die Tür mit dem kostbar verzierten Metallschloss. Dann nickte er und drehte den Schlüssel. Er schob die beiden Holzflügel auf und entzog sich dabei ihrer Berührung.
»Wir werden nur anfassen, was nottut«, bat er leise. »Die Bücher hier sind ein Vermögen wert.«
Die große Kammer schien der einzige Raum zu sein, der nicht von den Landsknechten verwüstet worden war. Dutzende Regale, bis oben angefüllt mit riesigen ledergebundenen Büchern, teilten ihn in fünf Bereiche. Muffige Luft schlug ihnen entgegen, und es kratzte Madelin im Hals, so dass sie husten musste. »Also - wo finden wir die Bücher?«
»Hier steht alles drauf.« Lucas deutete auf einen großen Bogen an der Wand und beleuchtete ihn mit einer Laterne. Das Dokument führte mit geschwungener Schrift alle Titel der Bibliothek auf sowie deren Standort in den Regalen. »Die Geometrie ist da hinten. Da gibt es einiges zu.«
Franziskus ging gleich hinüber. Madelin folgte ihm und ließ die Finger über einige Lederrücken gleiten. Sie versuchte, die Titel zu entziffern. Liber sextus las sie da sowie Decretum gratianum . Doch sie konnte kein Latein.
Der Ikonenmaler brauchte nicht lange, bis er gefunden hatte, wonach er suchte, einen Band auf ein Lesepult hievte und darin vorsichtig herumblätterte. Lucas sah ein anderes Regal durch.
Madelin musterte den Studenten aus der Ferne. Wie er sich auf dem Boden niederließ, die Stirn gerunzelt, das helle Haar nach allen Seiten abstehend, weil er es sich ständig raufte, die Lippen sorgenvoll aufeinandergepresst … Sie erinnerte sich an den jungen Mann, der ihr bei ihrer Ankunft in Wien mit fröhlich funkelnden Augen auf der Straße der Niklasvorstadt beigestanden hatte. Diese Unbeschwertheit war Kummer und Schuld gewichen. Die letzten eineinhalb Wochen hatten ihn sehr verändert.
Franziskus bohrte Madelin stumm einen Ellbogen in die Seite. Sie sah auf und folgte seinem Blick zu Lucas hinüber. Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, zu dem Studenten hinüberzugehen.
Die Wahrsagerin nickte und setzte sich auf einen Fußtritt neben Lucas, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte. Eine Weile sah sie ihm schweigend zu.
»Du hast es nicht wissen können, Lucas«, sagte sie schließlich. »Wer kommt schon auf den Gedanken, dass ein Trionfi-Spiel einem Mann das Leben kosten könnte?«
»Ich hätt’s nicht stehlen dürfen«, gab er zurück.
»Du hast es nicht gestohlen, du hast es … heimlich gekauft.«
»Das ist so ziemlich dasselbe, wenn man den Besitzer vorher nicht fragt.«
»Lucas«, sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Quäl dich nicht für Dinge, die andere getan haben. Du hast nicht den Hammer geführt, der den Mann getötet hat! Du hast mir helfen wollen!«
Seine Finger ließen das Buch los, das er gerade über die Schulter hinweg aus dem Regal ziehen wollte. »Vielleicht sollte ich das einfach lassen«, sagte er. Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. »Immer wenn ich versuche zu helfen, stirbt jemand.«
»Wenn du mir nicht mit diesem Spiel geholfen hättest, dann wären Franziskus, ich und die anderen in den paar Tagen verhungert, Lucas. Die Karten haben uns vermutlich das Leben gerettet.«
»Ich will ja nicht unken«, mischte sich Franziskus vom Pult her ein. »Aber es kann gut sein, dass sie uns dafür in den kommenden Tagen das Leben kosten werden.«
Madelin und Lucas verstummten und sahen ihn betroffen an. »Warum?«, fragte die junge Frau. Sie standen auf, und Lucas’ Hand glitt zwischen ihre Finger.
Franziskus winkte sie herbei und breitete die Karten auf
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