Die Schicksalsleserin
Ziel war Sankt Peter. Dabei überschlugen sich ihre Gedanken. Warum sollte jemand mit dem Messer die Herausgabe von ein paar Spielkarten fordern? Etwas stimmte nicht mit dem Trionfi-Spiel, das wusste sie jetzt mit Sicherheit. Sie musste es dem Ikonenmaler zeigen. Und zwar bevor der alte Mann mit dem Löwengesicht sie wiederfand.
Madelin sah noch das Messer vor sich, das er gezogen hatte. Er hatte nicht gezögert, ganz so, als hätte er das schon oft getan. Ob er auch Woffenberger auf dem Gewissen hatte? Der Gedanke beunruhigt sie noch mehr. Immer wieder warf sie Blicke über die Schulter, um zu sehen, ob sie verfolgt wurden.
»Meinst du, die anderen verstehen dein Signal?«, fragte Franziskus außer Atem, als sie bei der Kirche im Herzen der Stadt angekommen waren.
»Mein rotes Lieblingstuch aufgespießt an der Tür meines Karrens? Ich hoffe doch«, sagte Madelin. Jetzt war sie froh, dass sie mit den anderen gleich nach der misslungenen Flucht aus der Stadt einen neuen Treffpunkt vereinbart hatte - eine Weinstube in der Münzstraße bei Sankt Peter. Das taten sie in jeder Stadt für den Fall, dass einer von ihnen Ärger bekommen hatte und man sich an einem unverfänglichen Ort treffen musste.
Sankt Peter diente als Lazarett, und so herrschte hier ein heilloses Chaos. Der Platz zwischen den Gräbern war angefüllt mit Menschen. Liegend, humpelnd, laufend, manche wimmernd, manche schreiend, sammelten sie sich unter den hastig zusammengezimmerten Dächern aus Holz und Zeltleinen, die einen geringen Schutz gegen die Unbill des Wetter bildeten. Mehrere Feuer waren entzündet worden, um die Kälte fernzuhalten.
Die Weinstube befand sich im Untergeschoss eines doppelstöckigen
Fachwerkgebäudes, das sich schief gegen die Wände der ungleich prachtvolleren Steingebäude rechts und links davon lehnte. Bevor sie die Treppe hinunterging, ließ Madelin noch einmal einen Blick über den Platz schweifen. Alle Leute verfolgten ihr Ziel mit eiligem Schritt. Sie schloss die Tür hinter sich und versuchte, ihre Sorgen auszusperren. Dann half sie Franziskus die Treppe hinunter.
Unten war es muffig und kühl, wenn auch immer noch wärmer als draußen. Die kleinen Fenster im oberen Bereich ließen nur wenig Licht herein; das Feuer unter dem Kessel in der Mitte des Raumes war beinahe niedergebrannt. Eine Frau kam durch eine hintere Tür herein, den Arm voller Feuerholz gepackt. Bloß vier oder fünf Männer saßen im Schankraum. Madelin konnte nicht erkennen, ob es Landsknechte, Soldaten oder Städter waren. Alle wirkten müde, manche trugen Verbände.
Sie führte Franziskus an einen Tisch im Schatten der Treppe. Nicht nur wären sie hier nahe am Ausgang; man würde sie auch weniger gut beobachten können. Sie bestellte Essen und einen einfachen Wein für zwei, auch wenn die Preise an Wucher grenzten. Anscheinend wurde die Nahrung langsam knapper.
Franziskus lehnte sich an die Mauer in seinem Rücken und streckte auf einem Schemel sitzend die Gliedmaßen aus. Mit halboffenen Augen schöpfte er Atem. Auf der Flucht schien er seine schlechte Laune hinter sich gelassen zu haben.
»Um der Liebe Gottes willen, Madelin, wer war das?«, fragte er endlich.
»Ich weiß es wirklich nicht, Franzl.«
»Aber man muss doch einen Grund haben, jemanden mit einem Messer anzugreifen. Was wollte der Kerl von dir?«
»Er wollte mein Trionfi-Spiel.«
»Deine Spielkarten?«, fragte Franziskus verblüfft. »Wenn’s
um Essen gegangen wäre, dann hätt’ ich’s ja noch verstanden, bei den Preisen …«
Madelin holte die Karten hervor und legte ein paar davon auf dem Tisch aus. »Sie sind anders als meine alten Karten«, begann sie. »Ich glaube, Woffenberger hat sie für jemanden bearbeitet, bevor Lucas sie ihm … abgenommen hat.«
Der Ikonenmaler hob eine Augenbraue. » Abgenommen , was? Ein durchtriebener Bursche, unser Student.«
»Er wollte niemandem schaden. Aber ich habe den Verdacht … Franzl, es klingt vielleicht albern, aber ich glaube fast, dass Woffenberger der Karten wegen getötet worden ist!«
»Das klingt wirklich albern. Bist du dir sicher?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Aber erst wird Woffenberger getötet, der sie gemacht hat, und dann kommt eine Gestalt wie dieser Löwengesichtige und versucht, sie mir mit Gewalt abzunehmen? Das ist kein Zufall. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«
Franziskus griff nach der ersten Karte und betrachtete sie.
»Schau hier, das ist der Stephansdom«, sagte Madelin und
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