Die Schicksalsleserin
einem Tisch aus. »Ich habe ausgerechnet, was dabei herauskommt, wenn man diese Zahlen hier mit den Winkelangaben verrechnet«, sagte er. »Wenn ich die Hohepriesterin mit dem Stephansdom daraufhin hier in die Mitte hinlege und die anderen Karten drum herum, wie zum Beispiel die Liebenden am Stubentor, der fallende Turm am Kärntner Tor, der Stern bei Maria am Gestade, der König der Schwerter an der Burg …«, er zählte die Karten eine nach der anderen auf den Tisch, »dann ergibt sich nach und nach …«
»… ein Stadtplan von Wien«, stieß Lucas erstaunt aus.
»Mehr als das«, erwiderte Franziskus. »Ein gezeichneter Stadtplan von Wien wäre ungenau und ließe die Abstände von einem Bauwerk zum nächsten vage. In diesen Ziffern sind die Angaben verschlüsselt, wie man auf ein paar Schritte genau ausrechnen kann, wie weit voneinander entfernt diese Gebäude tatsächlich stehen. Zumindest so genau, wie die neuesten Maßangaben das zulassen.«
Lucas ließ Madelins Hand los. »Ich habe in der Schranne die Kopie eines Plans gesehen«, sagte er hastig und lief zu einem der Regale. »Es war ein grober Plan, aber es gab verschiedene Maßangaben, die diese Ungenauigkeit ausgeglichen haben.« Er
zog ein Buch nach dem anderen aus dem Regal, warf einen Blick darauf und legte es auf den Tisch.
Franziskus hob eine Augenbraue. »Was ist aus ›wir werden nur anfassen, was nottut‹ geworden?«
Lucas ignorierte ihn. »Der Plan muss aus dieser Bibliothek stammen, sonst hätte der Stadtrichter nicht kurzfristig eine Kopie davon anfertigen lassen können. Er muss schon älter sein. Ich wollte schon früher danach schauen, aber ich habe keinen Magister gefunden. Das mit dem Schlüssel hatte ich wie gesagt ganz vergessen.« Wieder lief er zum Regal, sammelte einen Schwung von Büchern heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. Dabei rutschte eines der Werke seitlich vom Stoß herunter, fiel auf die Kante und stürzte schließlich auf den Boden. Das kostbare Buch lag aufgeklappt und mit geknickten Seiten da, einige hatten sich gar gelöst und waren herausgeflattert.
Madelin half Lucas beim Aufsammeln der Blätter. »Was ist das?«, fragte sie da und klappte einen gefalteten Bogen auf. Zutage kam ein fast vollständig erhaltener Plan von Wien, der die Stadt eiförmig abbildete. Sie war so herum gezeichnet, dass der nördliche Donauarm unten lag und sich derWienfluss links entlangschlängelte. Auch der Alserbach sowie sämtliche wichtigen Gebäude der Stadt fanden sich darauf. Ste Stephan stand da, Newer Markt , Kerner Tor zu Laslas Turme , Purghtor sowie etliche weitere Beschriftungen. In der oberen Ecke war - entgegen jeglichem Entfernungssinn - Pressburg abgebildet, das doch Hunderte von Meilen weit entfernt lag. Da der Plan aber weder Straßen noch sonstige Orientierungspunkte zeigte, konnte es sich bei der Lage der Häuser zueinander nur um Schätzungen handeln. Tatsächlich war es mehr ein Gemälde der wichtigen Gebäude, eingeordnet in einen groben Mauerkranz.
Die Ungenauigkeit glichen winzige Kolonnen von Zahlen aus, die an den Rand des Plans gekritzelt waren. Diese Angaben,
in Schritten oder Fuß gehalten, schienen neueren Ursprungs zu sein. Sie waren so angebracht, dass man davon ausgehen konnte, dass sie die Entfernung der einzelnen Gebäude zueinander darstellten. So auch die vom Laslasturm außerhalb der Mauern im Süden zum Kärntner Tor, oder die vom Magdalenenkloster im Westen zum Tor bei den Schotten.
»Das ist er«, stieß Lucas aus. »Das muss die Vorlage sein, die Pernfuß hat abzeichnen lassen. Die Angaben muss vor ein paar Jahren ein Geometer gemacht haben, der die Stadt vermessen hat.«
»Seine Zahlen sind recht präzise«, murmelte Franziskus, der ebenfalls auf das Dokument spähte. »Man könnte auf ihrer Basis einen neuen Plan anfertigen, der weit genauer wäre als der alte.«
»Warum hat man das nicht gleich gemacht?«, fragte Madelin.
»Das ist nicht so leicht, wie man meint«, sagte Lucas. »Und zudem recht aufwändig. Aber wenn die Osmanen diese Maße in die Hände bekämen, dann wüssten sie nicht nur ganz genau, wohin sie schießen müssten, um die wichtigen Gebäude zu treffen, sie könnten auch genau abzählen, wie lang sie ihre Minen treiben müssten, um unsere Plätze in die Luft zu sprengen.«
»Die Osmanen graben Minen?«, fragte Madelin entsetzt.
»Allerdings. Die Mauer lässt sich leicht erreichen. Doch wir vermuten, dass sie auch unter die Alarmplätze graben wollen, die nahe der
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