Die Schicksalsleserin
Mauer liegen.« Er hob den Blick nicht von der Karte. »Wenn sie genau wüssten, wohin sie graben sollen, um dort ausreichend Pulver zu deponieren … Sie könnten ganze Hundertschaften unserer Soldaten in die Luft jagen. Sie würden uns mit einem Schlag fast wehrlos machen.«
»Aber warum ist dieser Plan noch hier in der Bibliothek?«, fragte Franziskus. »Wenn doch jemand die Befestigungsanlagen
Wiens verraten wollte - warum hat er nicht gleich diesen genommen?«
»Übrigens, das hier stammt aus Woffenbergers Hand«, Madelin zog aus ihrer Gürteltasche das abgerissene Stück Papier, das sie dem toten Kartenmaler abgenommen hatte. Unter den gespannten Blicken der beiden anderen legte sie den Fetzen an die angerissene Kante des Plans. »Das heißt, dass exakt dieser Plan die Vorlage für die Angaben auf den Karten war. Der Auftraggeber wollte nicht, dass das Fehlen der Vorlage entdeckt wird. Für den Fall, dass jemand anders auf die Idee kommt, den Plan für Verteidigungszwecke zu suchen.«
Sie suchte die Karten des Trionfi-Spieles wieder zusammen und steckte sie in ihre Gürteltasche. »Der Auftrag für die Karten muss von einem Spion stammen. Das erklärt die Brutalität dieses Löwengesichtigen - er beseitigt alle Spuren. Er wollte eine unauffällige Kopie des Stadtplans anfertigen lassen, die niemand vermissen würde und die man leicht aus der Stadt bringen kann. Aber Lucas kam ihm dazwischen.«
»Das stimmt«, erkannte der Student. »Wenn ich Woffenberger nicht die Spielkarten gestohlen hätte, wären sie jetzt vielleicht schon in Feindeshand!«
»Also hat dein Diebstahl doch nicht nur Schaden angerichtet«, sagte Madelin.
»Ja«, erwiderte Lucas erleichtert. »Der Maler wusste vermutlich selbst nicht ganz genau, was er da anfertigt.«
»Oder es hat ihn nicht interessiert«, meinte Franziskus. »Nicht jeder Wiener hat dein Verantwortungsbewusstsein.«
»Aber er sollte einen gesunden Überlebenswillen besitzen«, gab Lucas zurück. »Wenn die Türken diese Karten in die Finger bekommen und sie zu lesen wissen, dann werden sie die Stadt nehmen. Und dann ergeht es jedem schlecht, der innerhalb dieser Mauern wohnt.«
»Das war aber vor zwei Wochen noch nicht so offensichtlich wie jetzt«, erwiderte der Ikonenmaler. »Oder wann auch immer die Karten in Auftrag gegeben worden sind.«
»Wie lange dauern so feine Änderungen ungefähr?«
»Für einen begabten Maler, wie Woffenberger einer war, sind sie zwar nicht schwierig, aber aufwändig. Es muss präzise gearbeitet werden. Zwei Wochen benötigt man dafür schon, denke ich. Ist man solch winzige Maße gewohnt, rechnet oft und viel und kennt die geometrischen Formeln auswendig - vielleicht eine Woche. In jedem Fall hat jemand sich bereits frühzeitig auf die Ankunft der Türken vorbereitet, um ihnen zu helfen, denn es ist ja jetzt auch schon wieder eine Woche in Madelins Händen.«
»Aber warum ein Trionfi-Spiel, warum den Plan nicht einfach kopieren?«, fragte Madelin.
»Ich weiß nicht. Spione sind misstrauische Menschen. Vielleicht ist das Trionfi-Spiel ein vereinbartes Zeichen?«
»Und wenn man damit erwischt wird, dann landet man nicht sofort für Verrat am Galgen«, warf Franziskus trocken ein. »Kaum jemand würde auf einen flüchtigen Blick hin das Geheimnis dieser Karten erkennen, so wie Madelin.«
»Nur mit deiner Hilfe, Franzl«, sagte die Wahrsagerin. »Aber wer hat das Kartenspiel in Auftrag gegeben?«
Lucas fuhr sich nachdenklich durchs Haar. »Es muss jemand gewesen sein, der hier zur Universität Zugang hatte. Der Diebstahl muss sicher zwei Wochen her sein, wie Franziskus sagte. Vielleicht sogar drei. Wartet, es gibt ein Ausleihregister«, sagte er und ging hinüber zu dem Buch, das am Eingang auf einem Pult lag. Als er eine Weile darin herumgeblättert hatte, wurde er blass. »Verdammt.«
»Wer ist es?«, fragte Madelin und trat neben ihn. Der Name, den sie las, ließ auch sie erbleichen. »Graf zu Hardegg!«
Lucas entließ einen tiefen Atemzug. »Das muss nichts zu bedeuten haben. Vielleicht hat er sich den Plan für den Feldstab kopieren lassen. Graf Salm, Eck von Reischach und all die anderen Hauptleute müssen sich doch auch orientieren können, wenn sie nicht aus Wien stammen.«
»Eine logische Erklärung«, entgegnete Franziskus. »Aber es gibt auch eine andere.«
»Nein«, stammelte Madelin. »Er war’s bestimmt nicht.«
Lucas zog fragend die Augenbrauen hoch. »Graf zu Hardegg ist ein aufgeblasener Geck, neidisch auf
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