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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Hand. Ich kann da nicht lange fehlen.«
    Die drei räumten die Bücher zurück bis auf eines, das Lucas an sich nahm, um über die Fallsucht nachzulesen. Dann verschlossen sie die Bibliotheksräume wieder hinter sich.

    Bevor sie auf die Straße traten, nahm Lucas Madelin unten in der Halle bei der Hand. »Danke schön«, sagte er warm.
    »Wofür?«
    »Du hast mir bewiesen, dass ich nicht ständig alles falsch mache«, sagte er. »Unsere Erkenntnisse machen Woffenberger nicht wieder lebendig. Aber sie helfen mir. Diese Karten sind wichtig. Es ist gut, dass ich sie mitgenommen habe.«
    Sie lächelte. »Gern geschehen.«
    Madelin wollte schon gehen, doch er hielt sie fest. Dann beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie. Sanft kostete er ihre Lippen, seine Finger schlüpften unter das Tuch an ihrem Hinterkopf, mit dem sie das Haar hochgebunden hatte.
    Madelin lehnte sich gegen ihn und erwiderte den Kuss. Sie strich ihm über die Wange und wollte ihn gar nicht wieder loslassen. Die Anstrengungen der letzten Tage, die Sorgen, die Furcht - all das schien ferner, wenn sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. Ihm ging es offenbar genauso, denn er löste sich nur widerwillig von ihr. Madelin lächelte und sah zu ihm auf. Dann fuhr sie ihm endlich selbst durch das blonde Haar.
    Das Licht des klaren Mondes, das durch die Fenster hereinfiel, tauchte Lucas’ Augenhöhlen und Wangen in tiefe Schatten. Die Wahrsagerin runzelte die Stirn. Sie fühlte sich unwillkürlich an einen Totenschädel erinnert, und an das schlimme Schicksal, das sie für Lucas in den Karten gelesen hatte. »Pass auf dich auf, ja?«, bat sie.
    »Du auch«, murmelte er. »Ich glaube, die nächsten Tage werden schlimm. Irgendwann muss Ibrahim Pascha zum Sturm blasen lassen.« Er drückte ihre Hand. »Aber was immer du tust, Madelin, versprich mir eines, ja?«
    »Was?«
    »Pass gut auf diese Karten auf. Was du da in Händen hältst …«,
er schluckte. »Wenn die Karten an den Feind geraten, bedeutet das das Ende Wiens.«
    Madelin erwiderte den Druck kurz. »Ich weiß, Lucas. Ich gebe gut darauf acht.«
    Lucas fuhr ihr mit einer Hand über die Wange; eine feine Geste, die noch mehr Nähe ausdrückte, als der Kuss eben. Dann traten sie in die Nacht hinaus und eilten in verschiedene Richtungen davon.

KAPITEL 16
    D ie Sklaven stolperten in der kühlen Morgenluft auf die Straße. Dreckige Gesichter, von Tränenspuren gezeichnet, blickten sich sorgenvoll um. Das Lager der Osmanen war gewaltig - ein Meer von Zelten, Pferden und Karren. Was für ein Aufwand es sein musste, den Marsch eines solchen Heeres zu organisieren!
    Anna zog den kleinen Friedrich an sich. Am liebsten hätte sie ihn sich auf den Rücken gebunden, so wie Elisabeth vor ihrem Bauch hing. Dann wäre sie ein wenig beruhigter gewesen, dass auch der Junge in der Menge ja nicht verlorenginge.
    Man hatte am heutigen Morgen - jemand behauptete, es sei der sechste Tag des Oktober - sämtliche Sklaven aus der Kirche getrieben. Sie hatten stundenlang in der Kälte gewartet. Jetzt, gegen Mittag, brachte man sie zu einem großen Platz. Dort wurden sie in Gruppen getrennt. Anna fürchtete schon, man würde ihr den Jungen nehmen, doch das geschah nicht. Man sperrte sie immer zu zehnt oder zwölft in Pferche, die aus angespitzten Holzstämmen und dazwischen eingeflochtenen dünnen Ästen bestanden. Ein bewachtes Gatter verschloss diese Käfige.
    Anna sah sich um. Sie ahnte schnell, was auf diesem Platz geschah: Sie befanden sich auf dem Sklavenmarkt der Osmanen. Neben den Wachen standen die Akindschi vor den Pferchen, die offenbar die meiste Beute gemacht hatten. Sie gingen mit anderen Männern umher und ließen einen Blick auf die Waren werfen, die sie feilboten.
    Die Menge der Gefangenen war beeindruckend. Bis vor einer
Stunde noch hatte die Mutter gedacht, die Flüchtlinge in der Kirche seien die einzigen Unglücklichen gewesen, die in die Hände der Osmanen gefallen wären. Wie hatte sie sich geirrt! Über tausend Menschen befanden sich auf dem Sklavenmarkt. Manche Pferche waren so voll, dass die Insassen dicht an dicht standen und sich kaum rühren konnten. Die Akindschi mussten das ganze Umland heimgesucht, sämtliche Dörfer überfallen und alle Menschen geraubt haben, die ihnen in die Hände gefallen waren. Dabei handelte es sich dem Anschein nach hauptsächlich um Mädchen und Frauen sowie Jungen verschiedenen Alters. Anna sah kaum alte Menschen - offenbar besaßen die keinen Wert für die Osmanen -,

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