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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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noch - und sammelte die Blätter, an denen er gerade gearbeitet hatte, vom Boden auf. Es waren weitere Szenen der Belagerung, die er von der Türmerstube des Stephansdomes aus gemacht haben musste. Eine winzig klein gemalte Reiterfigur war als Eck von Reischach beschriftet. Er stand vor einem Heer von Landsknechten mit einem Wald von Piken und schien eine Rede zu halten, wie vor fünf Tagen und heute Mittag. Eine weitere kleine Szene zeigte Hinrichtungen: Die Osmanen spannten Gefangene auf Räder oder spießten sie der Länge nach auf Pfähle. War das das Schicksal, das ihnen bevorstand, wenn der Feind in die Stadt käme? Würde man dann einfache Bürgersleute so jagen und hinrichten wie diese Gefangenen? Die Bildchen verstanden es trotz ihrer geringen Größe, so viel Gewalt auszudrücken, als habe Franziskus eine Mahnung zu Papier bringen wollen: Schaut her, was der Krieg anrichtet und aus uns macht.
    Die Tür zur Kodrei wurde aufgerissen, und schnelle Schritte polterten über die Bohlen des Flurs. Madelin erschrak und legte die Bilder weg. Ihre Hand wanderte zum Messer, auch wenn ihr das gegen eine Pike oder ein Schwert nur wenig bringen würde. Als Lucas in der Tür stand, entspannte sie sich wieder. Doch sein Gesichtsausdruck war grimmig. »Hast du ihnen die Spielkarten gegeben?«
    Madelin wandte den Blick ab und sammelte die Blätter auf,
die Franziskus auf dem Boden verstreut hatte. Jeder einzelne Bogen Papier mit den Darstellungen dieses Schreckens schnitt ihr in die Seele. Doch das war immer noch besser, als Lucas in die Augen sehen und ihm die Wahrheit gestehen zu müssen.
    »Jemand hat den Türken einen Plan der Stadt gegeben«, sagte er und betonte jedes einzelne Wort. »Bitte, Madelin - sag mir, dass du es nicht warst.«
    Madelin stapelte die Papiere sorgfältig aufeinander; so sorgfältig, dass die Kanten exakt aufeinanderlagen. Dabei hielt sie ihren Blick beständig auf den Tisch gerichtet. Ihre Finger zitterten leicht, doch sie hoffte, dass er es nicht bemerken würde. Ihre Lippen schienen von einem unsichtbaren Band versiegelt worden zu sein.
    Lucas durchmaß den Raum mit zwei langen Schritten, die sie noch voneinander getrennt hatten. Dann fasste er sie am Arm und zog sie zu sich herum. »Madelin, sieh mich an!«
    »Lucas, bitte, lass mich los.«
    Er gehorchte und zog die Hand zurück. »Wo sind die Spielkarten?«
    »Was willst’ hören?«, fragte Madelin erstickt.
    »Die Wahrheit. Ich will wissen, ob du es warst oder nicht.«
    »Macht das denn einen Unterschied?«
    »Wie kannst’ so etwas fragen? Natürlich macht es einen Unterschied!«, rief Lucas. »Ich habe darauf vertraut, dass du die Karten hütest! Die Männer, die dich und diese Stadt verteidigen, sterben da draußen die schlimmsten Tode. Und du meinst, es sei gleich, wem sie das zu verdanken haben?«
    Madelin erinnerte sich an das Gewimmer im Lazarett von Sankt Peter. Jetzt sah es dort bestimmt noch schlimmer aus. Lucas hatte Recht - er verdiente die Wahrheit.
    »Ich habe die Spielkarten an die Osmanen gegeben …«, sagte sie leise, bevor ihre Stimme bebend versagte.

    Lucas’ Reaktion hätte nicht schlimmer sein können, wenn sie ihn ins Gesicht geschlagen hätte. Er verstummte und fuhr sich durchs Haar, doch dieses Mal schien es mehr eine Geste der Verzweiflung als der Verlegenheit zu sein.
    »Aber warum denn bloß?«, presste er schließlich hervor. »Wie kann jemand so etwas tun? Wie kannst du so etwas tun?«
    Madelin saß ein Knoten im Hals. »Sie haben meine Schwester«, flüsterte sie. »Anna.«
    »Verdammt. Ist sie … geht es ihr gut?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber Madelin - mit den Karten hast du das Leben Annas gegen ganz Wien getauscht, ist dir das klar?«, fragte Lucas.
    Die Wahrsagerin nickte. »Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte sie erstickt. »Hätte ich sie diesen Mördern und Schändern überlassen sollen? Ich habe gesehen, was sie aus meiner Mutter gemacht haben. Ich konnte Anna nicht im Stich lassen, Lucas, und erst recht nicht die Kinder!«
    »Damit hast du uns alle verdammt«, sagte Lucas tonlos. »Und nicht nur uns. Wien ist das letzte große Bollwerk des Reiches! Wenn Wien fällt …«, er hielt inne, offenbar um seine Gedanken zu sortieren, »wenn Wien fällt - wer soll sich dann noch den Osmanen entgegenstellen?«
    »Lucas, hörst du nicht? Sie haben Anna! Der Zug wurde überfallen und die Flüchtlinge sind von den Osmanen gefangen genommen worden.«
    Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich

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