Die Schicksalsleserin
er mir vertraut. Der Offizier, Mehmed, nannte ihn einen ›Aussätzigen‹. Kann das sein?«
Der Student zog die Augenbrauen hoch. »Hatte er Flecken im Gesicht? Gerötete?«
»Nein, sie waren braun.«
Lucas wurde bleich. »Dann ist es tatsächlich die Lepra.«
Madelin tauschte einen entsetzten Blick mit Franziskus. »Werden wir jetzt auch krank werden?«
»Hat er euch berührt?«
»Er trug beide Male Handschuhe.«
»Dann betet zum Herrn, dass er diesen Kelch an euch vorübergehen lässt«, murmelte Lucas. »Nur wenige Menschen bekommen Lepra, und selbst jene, die in Spitälern für Aussätzige
sorgen, erkranken selten daran. Und wenn euer Kontakt zu dem Mann nicht intensiv war, entscheidet der Herr allein, wer krank wird und wer nicht.«
Madelin bekreuzigte sich und sandte ein Stoßgebet an die Jungfrau Maria und den heiligen Rochus. Vielleicht schützte der Pestpatron ja auch vor dem Aussatz. Allein die Vorstellung, dass sie diese scheußliche Krankheit bekommen könnte, jagte ihr einen eisigen Schrecken in die Glieder. Jetzt betrachtete sie Franziskus mit anderen Augen. Ob er sich im Angesicht seiner Krankheit ähnlich machtlos fühlte? Sie hatte sich immer gewundert, wieso der Freund nicht mehr kämpfte und betete; sich nicht mehr daran beteiligte, Beistand zu finden. Jetzt ahnte sie, dass manche Schrecken zu groß waren, als dass man lange dagegen bestehen konnte.
Sie versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. »Wollen wir’s hoffen. Ich … Also, der Aussätzige sagte im Malefizhaus, er hätte den Stadtplan mit den Ziffern zum zweiten Mal stehlen wollen. Jemand hat die Karte aus der Bibliothek mitgehen lassen. Warst du das, Franzl?«
Der Freund nickte. »Habe sie mitgenommen, bevor ich das Buch ins Regal zurückgestellt habe. Ich wollte verhindern, dass ein neuer Plan angefertigt und den Osmanen gegeben wird.«
»Das heißt, dieser Spion hat ihn Woffenberger gebracht, damit der ihn als Vorlage nutzen kann, und nach dem Mord in die Bibliothek zurückgebracht, wo wir ihn dann gefunden haben.«
»Das hatten wir uns schon so ähnlich ausgemalt«, bestätigte Franziskus. »Aber der Plan kann uns jetzt noch hilfreich sein. Auch unsere Leute in den Minen können sich damit unter Tage orientieren. Wir kennen die lohnenden Ziele und können ihnen entgegengraben.«
»Da müssen wir wohl ein wenig rechnen.« Lucas wandte sich Madelin zu. »Fällt dir sonst noch etwas ein?«
»Der Kerl hat den Henkersmann damit eingeschüchtert, dass er Einfluss hätte - wegen Haus und Posten; beides sei ihm von der Stadt überlassen worden.«
»Das heißt, er hat Einfluss auf die städtischen Belange?«, fragte Lucas ungläubig.
»Es klang zumindest so.«
»Wieso hat er den Henkersmann eingeschüchtert?«, fragte Franziskus.
»Der Freymann wollte Hand an mich legen, um nach dem Spiel zu suchen«, sagte Madelin. Ihr standen wieder die Haare zu Berge, wenn sie an den Augenblick zurückdachte.
»Und der Alte hat ihn zurückgepfiffen?«, fragte Lucas. »Wie merkwürdig.«
»Ja. Ich weiß auch nicht warum. Der Henkersmann hat regelrecht gebuckelt vor ihm.«
»Und sonst erinnerst du dich an nichts?«, fragte Lucas.
»Ich fürchte nicht«, erwiderte die junge Frau. »Das ist nicht sonderlich hilfreich, oder?«
»Nein«, bekannte Lucas. »Was ist mit dem Offizier?«
»Stimmt, das war merkwürdig. Er hat gesagt, er würde der Quelle, die ihm die Karten verschafft hat, nicht vertrauen. Er wollte erst überprüfen, ob die Zahlen stimmen.«
»Wie gut, dass ich sie nicht auch noch verändert habe«, murmelte Franziskus. »Ich hätte es getan, wenn ich einen Pinsel hätte halten können.«
»Wie gut?«, fragte Lucas gereizt. »Ich wünschte, du hättest es getan! So leid es mir tut, das zu sagen - es geht hier um mehr als Anna, es geht um uns alle und die ganze Stadt!«
»Uns gegenseitig zu kreuzigen wird uns aber auch nicht weiterbringen«, wies Franziskus ihn zurecht. »Wir müssen den
Aussätzigen finden. Über ihn kann man vielleicht herausfinden, wie es Anna geht und wer der Auftraggeber des Kartenspieles nun ist.«
Lucas raufte sich das Haar und presste die Lippen aufeinander. Erst sah es so aus, als wolle er weiterschimpfen, dann nickte er. »Und wo sollte man anfangen?«
»Beim Henker«, schlug Franziskus vor. »Er scheint von dem Aussätzigen ja recht beeindruckt gewesen zu sein. Dann muss er auch wissen, wer das ist.«
»Ich werde dort mit Miro vorbeigehen«, sagte Madelin. »Und jemand kann die Spitäler
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