Die Schicksalsleserin
Gürteltasche verwahrt hoffte - oder in Franziskus’ sorgfältiger Obhut. Nur zwei Möglichkeiten bestanden, wie der Feind an Informationen über die Stadt gelangt sein konnte. Die eine war Graf zu Hardegg, gegen den Lucas seinen Verdacht immer noch nicht hatte ausräumen können. Hatte Hardegg den Auftrag erhalten, den Spion zu finden, der die Karten weitergegeben hatte? Die andere Möglichkeit war Madelin. Konnte es doch sein, dass sie das Spiel weitergegeben hatte, und die Osmanen sich unter den Füßen der Soldaten einen Weg in die Stadt gruben? Die ganze Situation war absurd.
»Bürschlein, auf ein Wort«, bat Wilhelm Hofer.
»Was?«, fragte Lucas. Würde er sich jetzt wieder eine Litanei anhören müssen, dass er unter Tage helfen sollte? »Ich gehe nicht in die Minen. Ich muss etwas erledigen.«
»Ich wollt nur sagen … Du hast Recht gehabt.«
»Recht? Womit?«
»Na, damit, dem Überläufer zu vertrauen. Und mit den Minen und allem.«
»Danke«, erwiderte Lucas. Dieses Lob bedeutete ihm viel - besonders, da es den Zimmermann viel gekostet haben musste, es auszusprechen.
»Sag halt Bescheid, wenn du’s dir anders überlegst. Du findest mich immer in Richtung Kärntner Turm.«
Erstaunt begegnete Lucas dem Blick des alten Handwerkers. Wieso herrschte der ihn nicht an, er möge sich nicht so anstellen? Wieso gab er keine Drohungen, keine Herablassungen von sich? Würden Hofer und er in Zukunft möglicherweise sogar vernünftig miteinander reden können? »Ja. Euch viel Glück«, sagte der Student.
»Ach, und Steinkober …«, begann der alte Zimmermann, bevor er sich abwandte.
»Ja?«
Hofer zögerte und wich seinem Blick aus. Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch schließlich winkte er ab. »Ach, nichts. Sieh zu, dass du dich nicht erschießen lässt.«
»Ihr auch.« Lucas sah ihm irritiert nach. Was war bloß los mit dem Mann?
Graf Salm fasste Lucas beim Ärmel und keuchte: »Was kann so wichtig sein, dass du es jetzt nicht verschieben kannst?«
Lucas zog eine grimmige Miene. »Ich kenne vielleicht jemanden, der uns erklären kann, warum die Osmanen sich so gezielt unter unserer Stadt bewegen können.« Salm nickte, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er ließ Lucas’ Ärmel los.
Der Student machte sich auf zum Stubenviertel. Er wollte nicht glauben, dass Madelin die Pläne an die Türken weitergegeben hatte. Aber irgendjemand hatte die Stadt an den Feind verraten. Und es gab nur einen Weg herauszufinden, wer es gewesen war.
Er würde Madelin zur Rede stellen.
KAPITEL 21
M adelin saß an Franziskus’ Lager. Sie hatte ihm mit Schecks Hilfe einen Riemen in den Mund geschoben und abgewartet, bis die Zuckungen seinen Körper nicht mehr durchliefen. Jetzt war der Freund in jenem Dämmerzustand, in dem er nicht schlief, aber auch nicht wach war.
Sie strich dem ehemaligen Mönch das verschwitzte Haar aus der Stirn und fragte sich, ob er wohl Visionen hatte, während die Krämpfe ihn heimsuchten. Wenn der Priester in Pressburg Recht behielt, dann steckte ein Teufel in Franziskus’ Seele, der versuchte, die Oberhand zu gewinnen. Man sollte doch meinen, dass ein Besessener davon etwas bemerkte; besonders, wenn er ein so aufmerksamer Mensch wie Franziskus war.
Der Donner der Kanonen rollte weniger dicht über die Stadt, der Beschuss schien nach dem Sturm am Nachmittag abzuflauen. Madelin lauschte, denn das konnte zweierlei bedeuten: Entweder waren die Türken abgewiesen worden und brachen den Sturm zur Nacht hin ab. Oder sie hatten die Mauern genommen und waren bereits in der Stadt. Doch aus den Gassen Wiens war kein Gebrüll zu hören, wie sie es sich vorstellte, wenn sich die Kämpfe von den Mauern in das Stadtinnere verlagert hätten. Die beiden Explosionen vorhin hatten also offenbar weniger Schaden angerichtet als befürchtet.
Madelin dachte an den Augenblick zurück, in dem erst die eine, dann die andere Mine detoniert war. Sie hatte sich auf die Knie geworfen und für ihre Seele gebetet - und für die aller
gläubiger Christen in Wien auch. Franziskus war gleichzeitig in der anderen Kammer von seinem Fluch heimgesucht worden und hatte sich den Kopf angestoßen. Scheck und sie hatten ihn wie üblich davor bewahrt, sich weiteren Schaden zuzufügen. Dann hatte Madelin auch für ihn gebetet. Denn wenn ein Teufel in seinem Leib steckte, dann war das Gebet das Einzige, was dagegen helfen würde.
Jetzt erhob die Wahrsagerin sich vorsichtig - die geprellte Hüfte schmerzte sie
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