Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
der Stadt absuchen, ob Mönche aus den Siechenhäusern dort sind, die mit dem Kerl etwas anzufangen wissen. Das Gesicht vergisst man nicht, wenn man es einmal gesehen hat.«
    »Ich übernehme die Spitäler«, sagte Lucas. Er zögerte und fügte hinzu: »Seid vorsichtig beim Henkersmann.«
    Madelin nickte - er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Sie war so erschöpft und voll Sorge, dass sie den Tränen nahe war. Sie sehnte sich nach einer Umarmung, nach Nähe und Geborgenheit. Zu zweit wären diese schlimmen Dinge viel besser zu ertragen, das wusste sie. Doch Lucas’ Gesichtsausdruck war verschlossen. Schließlich wandte er sich zum Gehen. »Willst’ gleich los?«, fragte sie.
    »Ja, ich … ich mache mich gleich auf den Weg.« Er wich ihrem Blick noch immer aus.
    »Lucas … ich wollte niemandem schaden, wirklich nicht. Aber ich konnte nicht tatenlos dastehen und nichts tun. Kannst du das nicht verstehen?«
    »Doch«, sagte er schließlich.
    »Ändert das etwas zwischen uns?« Madelin schöpfte schon Hoffnung, doch Lucas verzog entschuldigend das Gesicht. »Ich weiß nicht genau.« Damit verließ er die Kodrei.

    Madelin blieb zurück und fühlte die Tränen über die Wange laufen. Sie hatte Lucas’ Vertrauen enttäuscht, um ihre Schwester zu retten. Hatte sie sie nun beide verloren? Was ihr jetzt noch blieb, waren Franziskus und die Freunde, so wie vor ihrer Ankunft in Wien.
    Der Ikonenmaler stand mit unsicheren Beinen auf und setzte sich zu ihr auf die Bank. Er nahm sie in den Arm, und Madelin schmiegte sich an ihn. »Franzl, wir müssen ins Haus meiner Mutter«, stammelte sie schließlich.
    »Bringt das denn etwas?« Er hielt sie, so fest er konnte, strich ihr über das Haar und wischte die Tränen fort. »Lucas wird nicht mitgehen. Und was, wenn die Osmanen wirklich kommen und die Menschen in der Stadt umbringen - könntest du damit leben?«
    Jetzt konnte Madelin das Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Sie weinte so heftig, dass sie glaubte, nicht mehr aufhören zu können. »Nein«, presste sie schließlich heraus.
    Franziskus schwieg, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Siehst du. Wollen wir nicht einfach hierbleiben und hoffen, dass alles gut ausgeht?«
    »Wie soll’s denn jetzt noch gut ausgehen?«, fragte Madelin erstickt.
    »Soll ich dir deine eigene Lektion wieder vorsagen?«, fragte er mit einem Schmunzeln. »Ich glaube, du weißt, was ich sagen will. Versuche, ein bisschen zu schlafen.« Franziskus wiegte sie in den Armen.
    Madelin schloss die Augen. Sie war müde und erschöpft, doch ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Schließlich stellte sie mit Schrecken fest, dass ihr der Trost des lieben Freundes nicht mehr reichen wollte. Sie sehnte sich so sehr nach Lucas, dass sich tief in ihr ein dumpfer Schmerz ausbreitete. Doch der Student würde ihr nie vergeben können, was sie getan hatte.

KAPITEL 22
    M it dem Mittag war Stille im Lager der Osmanen eingekehrt, Stille über dem Wiener Becken und Stille über Wien. Auch der Regen war versiegt. Endlich.
    Anna stand vor dem Zelt und blickte mit gemischten Gefühlen gen Westen, dorthin, wo der Stephansturm in aller Ferne so schmal wie ein Strohhalm in den Himmel ragte. Die letzten Tage mussten für die Menschen in Wien die Hölle auf Erden gewesen sein, und die Janitscharen des Sultans ihre Teufel. Am neunten Tag des Oktobermonats hatte das Heer auf Befehl Ibrahim Paschas den ersten Sturm auf Wien begonnen.
    Der zweite Sturm war nur zwei Tage später erfolgt. Christoph hatte nach einem Festmahl mit dem Sultan davon erzählt, dass es den Osmanen gelungen war, mit einer Mine eine Bresche von sicher einhundert Fuß Breite in die Mauer östlich des Kärntner Turmes zu sprengen. Angeblich hatte sie die Gestalt eines Tores, weil der Mauerkranz oben stehen geblieben war. Die Fahnenführer der Janitscharen und ihr Fußvolk hatten die Mauer genommen. Doch die Wiener waren offenbar gut vorbereitet gewesen. Sie hatten in der Sehne der alten Mauer hinter der ersten eine zweite errichtet. Die Janitscharen waren in das Arkebusenfeuer der Landsknechte gelaufen und hatten große Verluste erlitten.
    Der zweite Sturm war gestern gerannt worden - wieder ohne Erfolg. Heute war Dienstag, der zwölfte Tag des Oktober, und die Janitscharen hatten vom frühen Morgen an den dritten Sturm auf die Mauern begonnen. Kanonenfeuer ertönte, der Lärm der Sprengungen, deren Schall das ganze Wiener Becken
verstummen ließ - nur jetzt, zum Mittag hin hatten sich die Osmanen

Weitere Kostenlose Bücher