Die Schicksalsleserin
Tage hinweg neben dem Mörder seines Vaters die Stadt verteidigen können? Wie hatte er nicht bemerken können, dass der Mann sich in seiner Nähe anders verhielt als bei anderen Menschen? Wie hatte er die schuldbewussten kleinen Blicke nicht deuten können, die Wilhelm Hofer ihm zugeworfen hatte, fünfzehn Jahre, nachdem er seinen Vater im Bellum latinum niedergestochen hatte? Aber die wichtigste Frage war doch eher, wie Wilhelm Hofer an Lucas’ Seite hatte arbeiten können, wissend, dass er dem Sohn des Mannes in die Augen sah, den er ermordet hatte.
Lucas hielt an und lehnte sich in einer dunklen Gasse an die Wand. Er hatte immer gedacht, sein Vater sei als Held gestorben, für die Rechte und Freiheiten der Studenten. Nun machte es den Eindruck, als sei er doch bloß ein Mensch gewesen, der mit Wilhelm Hofer möglicherweise genauso eine Rechnung offen gehabt hatte, wie dieser mit Lucas. Er versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das von seinen Gliedmaßen Besitz ergriffen hatte, doch es gelang ihm nicht.
Als die Wut kam, richtete sie sich hauptsächlich gegen sich selbst. Um den Mörder seines eigenen Vaters zu trauern ergab keinen Sinn! Und das schlechte Gewissen, nicht bei ihm in der Mine gewesen zu sein, schon gar nicht.
Lucas drehte sich um und hieb mit der Faust, in der das Cingulum lag, mehrfach gegen die Wand. Der Putz des Fachwerkhauses bröckelte und seine Knöchel bluteten, ebenso seine Handinnenfläche, dort, wo ihm die münzgroße Schließe mit scharfen Kanten in die Haut geschnitten hatte. Doch er konnte es nicht verleugnen - er vermisste den alten, polternden, manchmal dummen, immer knurrigen Zimmermann. Endlich kamen die Tränen und lösten den Knoten in seiner Brust.
Lucas rutschte mit dem Rücken zur Wand auf den kalten Boden
der Gasse hinunter. Er rieb sich über die von Tränen gekühlten Wangen und schloss die Arme um die Knie. Sein Leben fühlte sich an, als sei es gerade zersplittert, als ergäbe nichts mehr einen Sinn. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wohin sollte er sich wenden?
Als es wieder zu nieseln begann, kroch Lucas in den nächst gelegenen Keller, rollte sich zusammen und schloss die Augen. Sein Vater, Ansässer, Hofer und auf gewisse Weise auch Madelin - alle waren sie gegangen und hatten ein Stück von ihm mitgenommen. Jetzt fühlte sich sein Inneres hohl und leer an. Er zweifelte, dass noch genug übrig geblieben war, als dass er jemals wieder aufzustehen vermochte.
KAPITEL 24
D er ganze Tag war zu still gewesen. Gestern, am zwölften Oktober, hatte man nach dem dritten Sturm der Janitscharen damit gerechnet, dass die Osmanen heute entweder abziehen oder die Mauern so lange berennen würden, bis sie die letzten Breschen eingerissen und Wien genommen hätten. Beide Fälle waren nicht eingetreten, und das beunruhigte Madelin so sehr wie jeden anderen in der Stadt.
Der Kärntner Turm, der im Osten an das Tor anschloss, war so zusammengeschossen worden, dass die Brustwehr der Schützen heruntergestürzt war und man die Stellung hatte aufgeben müssen. Sie war in einer Nacht- und Nebelaktion, bei der Scheck und Miro geholfen hatten, mit Holz und Steinen wieder aufgebaut worden. Die Freunde hatten der jungen Frau erzählt, dass im Westen des Turmes zwei Breschen klafften, die durch die Sprengungen gestern zu einer einzigen großen verbunden worden waren. Es grenzte an ein Wunder, dass Wien die Osmanen ein drittes Mal hatte abweisen können.
Heute hatte die Reiterei dann zum ersten Mal seit beinahe einer Woche wieder einen Ausfall gewagt. Die beiden Hauptleute - Katzianer und Graf zu Hardegg - hatten die Taktik der Türken gegen sie selbst gewandt. Mit einem Scheinangriff und einer Flucht hatten sie den Feind weit in einen Weinberg hineingelockt und ihm dort eine Falle gestellt. Madelin hatte gehört, dass man viele Gefangene gemacht und auf dem Rückweg sogar ein paar Sklaven befreit hatte. Sicher war das nur ein beinahe trotziger Nadelstich, doch die Herzen der Verteidiger schlugen bei solchen Neuigkeiten höher.
Die Dämmerung war längst gekommen, hatte Wien in ein strahlendes Herbstlicht getaucht und war dann einer klaren Nacht gewichen. Das schöne Wetter änderte aber nichts an der Tatsache, dass Madelin krank vor Sorgen war. Die Lage an den Mauern musste schlimm sein, darüber hinaus kommandierte Graf Salm die Truppen wegen seiner Beinverletzung aus seiner Kammer. Scheck hatte berichtet, dass die Verteidiger die Breschen in den Mauern nur mit äußersten
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