Die Schicksalsleserin
küssten sie ganz zart. Sie schmeckte Salz - auch er musste geweint haben. Mit beiden Händen umfasste sie Lucas’ Gesicht. Er duftete nach Erde und Pulverdampf.
»Ich heiße Meryem, du Dreckspatz.«
Dann barg sie den Kopf an seiner Halsbeuge. Sie konnte den Schlag seines Herzens erlauschen und schloss die Augen, um diesem Klang nachzuhorchen. Es schlug schnell, sein Herz. Und obwohl sie dieses Geräusch so gut kannte, gab es ihr jetzt das Gefühl, noch nie jemandem so nahe gewesen zu sein. Es versetzte sie in einen glücklichen Schwindel.
Dann drang etwas anderes an ihr Ohr - ein Poltern von nebenan, dann Stöhnen, Zähneknirschen, Gerumpel. Franziskus hatte wieder einen Anfall. Madelin löste sich aus Lucas’ Armen, und gemeinsam eilten sie in die Küche an die Seite des Freundes. Offenbar hatten die Zuckungen nicht eben erst begonnen, sie hatten bloß nichts gehört.
»Halt ihn fest!« Und während Lucas mit dem Ikonenmaler rang, der wie üblich erstaunliche Kräfte entwickelte, griff sie nach dem bereitliegenden Lederriemen. Sie hoffte bloß, dass Franziskus sich nicht den Kopf an etwas aufschlug.
Als Lucas den Freund endlich mit den Händen an beiden Unterarmen
und dem Knie auf dem Brustkorb auf den Boden gedrückt hatte, beugte Madelin sich von der anderen Seite über Franziskus und wartete auf eine Gelegenheit, ihm den Riemen zwischen die Zähne zu schieben. Dann überließen sie den Ikonenmaler seinen Zuckungen.
Lucas furchte die Stirn. »Wer hätte gedacht, dass so viel Kraft in dem dürren Mann steckt?«
»Tut es eigentlich auch nicht«, murmelte Madelin. »Nur wenn er so ist. Deswegen hat der Priester in Pressburg gesagt, er sei besessen.«
»Ich kann mir denken, warum«, erwiderte Lucas. Er hatte einen Blick aufgesetzt, den Madelin von ihm noch nicht kannte. Eindringlich musterte der Student den Freund oder eher das, was momentan aus ihm geworden war. Den dämonischen Ausdruck auf dem verzerrten Gesicht, den Schweiß auf der geröteten Stirn, den Bogen, den der Körper in den Augenblicken der schlimmsten Krämpfe beschrieb, die klauenartigen Hände, die verdrehten Augen, die nur noch das Weiße zeigten. Sie konnte verstehen, warum der Priester damals einen Exorzismus vorgeschlagen hatte.
»Seine Stirn ist nach Galenus heiß und feucht«, murmelte der Student nachdenklich. »Ich müsste noch einmal seinen Puls fühlen. Hast du beobachtet, wie oft er das hat?«
»Heute ist es das erste Mal«, gab Madelin zurück. »Gestern hatte er mehrere.«
»Wann ungefähr?«, fragte Lucas.
»Das muss… Der erste Anfall kam in der Früh. Die Minen waren gerade explodiert, wann war das?«
»Etwa gegen die neunte Stunde.«
»Es hörte kaum mehr auf, bis es etwa Mittag war. Danach kam der nächste so… na ja, ich würde sagen zur dritten Stunde nach Mittag.«
»Und heute den ganzen Tag nicht, aber am späten Abend …«, murmelte Lucas und kräuselte die Stirn. »Halt mir einmal seinen Arm fest.«
Madelin setzte sich neben den Tobenden, griff im geeigneten Moment zu und bekam Franziskus’ Hand zu fassen. Sie hatte den Eindruck, dass die Krämpfe bereits wieder nachließen. Lucas fühlte seinen Puls. »Ebenfalls heiß, die Haut«, murmelte er dabei. »Der Puls ist so hektisch, dass man ihn kaum unterscheiden kann.« Sie traten beide wieder zurück.
»War das ein schlimmer Anfall?«, fragte Lucas.
»Nein, im Gegenteil. Der ist ziemlich schnell wieder vorbei gewesen.«
Als die Krämpfe ein Ende fanden, eilte Madelin an Franziskus’ Seite. Sie bettete ihn wieder auf sein Lager, schlug ihn in die Decken ein, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn und sprach ein Gebet über ihm. Als sie fertig war, bemerkte sie, dass Lucas sie beobachtete.
»Du bist ganz schön geübt darin, dich um ihn zu kümmern.«
»Franziskus ist meine Familie. Auch wenn ich nicht durch Blut mit ihm verbunden bin.« Madelin wandte sich Lucas zu. »Meinst du, er ist besessen?«
»Ich weiß es nicht, Madelin. Es gibt eine Krankheit, die man dem heiligen Valentin nach benannt hat. Sie heißt auch die ›fallende Krankheit‹. Die Berichte darüber sind so alt wie die Schriften über die Medizin. Die alten Griechen haben schon darüber geschrieben, die Römer - Galenus erwähnt sogar, dass sie bei den Herrschern Ägyptens bekannt war. Von manchen wird gesagt, es sei eine Begleiterscheinung von Sehern, die die Berührung des Göttlichen nicht ertragen könnten. Andere wiederum nennen es eine Heimsuchung durch Teufel.«
Madelins Mut
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