Die Schicksalsleserin
es gefällt dir nicht.«
»Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht.« Sie zögerte. »Ich
könnte in der Tat zu meiner Mutter gehen. Wenn es jemanden gibt, der zu Hardegg nahe genug steht, um so etwas mitzubekommen, dann sie.«
»Aber du willst nicht«, schloss Lucas.
»Nein. Aber das ist ja jetzt keine Frage mehr, oder? Wenn die Türken kommen, dann sollten wir besser wissen, wer der Schuldige ist. Wenn es nicht schon zu spät ist.« Sie hielt inne. »Außerdem kann ich meine Frau Mutter dann gleich fragen, ob sie etwas von Anna gehört hat.«
Lucas war mit dem Laden der Waffe fertig. Er legte sie ab, ohne die Lunte zu entzünden, und stand auf. Dann sammelte er seine Sachen zusammen, legte einen Schwertgurt an und trat wieder auf sie zu.
»Ich muss los, Meryem. Du willst die Schusswaffe wirklich nicht behalten?«
»Nein. Sorg einfach dafür, dass kein Osmane über die Mauern kommt, dann bin ich hier sicher.« Madelin sah zu ihm auf und lehnte sich an ihn. Sie wollte seine Wärme spüren, so lange sie noch konnte. Er hob ihren Kopf und küsste sie so innig, dass Madelin erschauerte. Dann riss er sich los, nahm die Arkebuse und seinen Umhang und ging. Er verabschiedete sich nicht.
Madelin hielt ihn nicht auf. Sie rief ihm auch keinen Gruß hinterher, denn jedes Wort würde sich anfühlen, als sei es ein Lebewohl. Sie stand noch eine Weile lang an der Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte. Dann zog sie die Decke wieder um den frierenden Leib und ging in die Kammer zurück. Sie musste sich anziehen. Am besten das gute Kleid. Vielleicht würde man sie dann eher zur Mutter vorlassen.
Madelin legte die Stirn in Falten, während sie nach dem halbwegs sauberen Gewand griff. Der einzige Hinweis, den sie auf Graf zu Hardegg als den Verräter besaßen, war der Eintrag
im Ausleihregister der Bibliothek. Das war mehr als schwach. Und doch gab es keinen anderen Ansatzpunkt als den Aussätzigen mit dem Löwengesicht. Er besaß Einfluss in Wien, der sogar den Henkersmann eingeschüchtert hatte. Das könnte sehr wohl auf Hardegg zutreffen.
Wer sonst besaß Zugang zu so wichtigen Informationen, wenn nicht der Reiterhauptmann? Wer in einer solchen Position konnte einen Grund haben, Wien an die Türken zu verkaufen?
Madelin schürzte nachdenklich die Lippen. Doch sie war nicht ganz bei der Sache. Sie erinnerte sich, wie Lucas ihren wahren Namen ausgesprochen hatte, und musste lächeln. Es hatte geklungen, als knüpfe er ein unsichtbares Band zwischen ihnen.
Madelin erstarrte, als die Erkenntnis sie traf. Meryem. Das war türkisch und hieß Maria, hatte der Offizier der Janitscharen gesagt, der ihre Mutter geschändet und sie selbst gezeugt hatte. »Warum sollte eine Frau, die von einem Türken vergewaltigt wurde, ihrer ungeliebten Tochter einen türkischen Namen geben?«, fragte sie sich laut.
Franziskus schnaufte auf seinem Lager. »Weißt du«, murmelte er schwach, »das habe ich mich schon damals gefragt, als du mir das erste Mal davon berichtet hast. Aber ich dachte, es wäre nicht wichtig.«
»Du bist wach, Franzl.«
»Ihr habt ja genug Krach gemacht.« Franziskus richtete sich halb auf. »Was sagt dir das?«
Madelin zögerte. Sie wollte nicht aussprechen, was sie dachte, denn dann stand ein Vorwurf im Raum, der sich nicht würde zurücknehmen lassen. »Mehmed ist mein Vater. Er hat gesagt, er traut der Quelle nicht, die ihm die Karten zugespielt hat. Und er sagte, er traue meiner Familie alles zu. Ich dachte, er meinte Graf zu Hardegg. Aber was … Franzl, was ist, wenn
er über Mutter gesprochen hat? Er hat merkwürdig reagiert, als ich ihm sagte, dass Annas Tochter Elisabeth heißt - nach unserer Mutter.«
»Wie - merkwürdig?«
»Da war Wehmut und Schmerz.«
»Das ist in der Tat merkwürdig. Ob ihn sein Gewissen plagt?«
»Möglich.« Madelin grübelte weiter. »Aber es gibt diese Verbindung zu meiner Mutter. Ich habe sie immer ignoriert, weil ich dachte, dass sie den Mann lieber erwürgen würde, als ihm beizustehen. Vielleicht erpresst er sie?«
»Ja, womit denn? Die Karten sind doch schon zwei Wochen vor der Belagerung begonnen worden. Was lässt dich glauben, dass deine Mutter da mit drinhängt?«
»Die schlichte Tatsache, dass wir noch am Leben sind? Ich war in den letzten Tagen dreimal beim Malefizhaus. Der Aussätzige hätte dort nur warten und mir folgen müssen, dann hätte er uns alle aus dem Weg schaffen können. Merkst du nicht? So ergibt alles einen Sinn! Der Aussätzige hat den
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