Die Schicksalsleserin
es für die meisten Krankheiten üblicherweise eine rationale Erklärung gibt.« Er holte zu einer Erläuterung aus. »Ein Überschuss der Schwarzen Galle zum Beispiel äußert sich in einer schlimmen Schwermut, die vom Kranken Besitz ergreift. Umgekehrt haben manche Krankheiten äußere Auslöser. Ich habe das Buch nicht hier, aber ich glaube, dass Hohenheim sagt, die Valentinskrankheit sei dem Menschen angeboren. Das würde bedeuten, dass sie durch den Schrecken bloß erweckt wird. Und je mehr Schrecken, desto mehr Krämpfe.«
Madelin atmete erleichtert aus. »Dann leidet also nur sein Leib, aber immerhin hat sich kein Teufel in seine Seele gekrallt.« Sie zögerte, bevor sie fragte: »Kann man diese … diese Valentinskrankheit heilen?«
»Wir können mit Pflanzen versuchen, die überschüssigen Säfte aus dem Gehirn zu ziehen. Nieswurz, Treibkraut, Attich … Ich müsste noch etwas nachschlagen. Die Krankheit wird ihn vermutlich nicht verlassen, mach dir da keine zu großen Hoffnungen. Wenn es die Resonanz erschreckender Ereignisse ist, dann lösen eine Explosion oder ein Schuss in seinem Körper vielleicht eine Art Echo aus. Wie im Kleinen, so im Großen, sagt Galenus. Vielleicht wird er damit leben müssen wie etwa ein Krüppel.«
»Wir versuchen es mit den Kräutern. Hauptsache ich weiß, dass die Priester Unrecht haben«, sagte Madelin dankbar. Franziskus - ihr Franzl - war ganz er selbst. Mit dieser Erkenntnis fiel eine schwere Last von ihren Schultern. »Schlaf gut, du Lieber«, murmelte sie und beugte sich zu ihm hinunter. »Schlaf dich gesund.« Sie strich ihm noch einmal über die Wange und ordnete sein Haar.
Dann stand sie auf und wandte sich Lucas zu. Sie nahm seine verletzte Hand und sah sich die Knöchel an. »Komm, setz dich. Ich wasch dir das Blut ab.« Er nahm auf einem Hocker Platz, während sie einen Leinenfetzen in einen Wassereimer tauchte. Dann tupfte sie die Wunden sauber.
»Ich habe übrigens alle Mönche und Nonnen gefragt, die aus Spitälern stammen. Sie haben den Aussätzigen nie gesehen. Hast du den Lehrling des Kartenzeichners wiederfinden können?«, fragte Lucas.
»Nein, und auch den Henkersmann nicht«, sagte Madelin. »Sie sind weg. Selbst wenn wir die ganze Stadt umpflügen - sie werden sich alle Mühe geben, dass wir sie nicht finden. Vielleicht hat der Aussätzige sie auch längst aus der Stadt geschafft.«Wenn sie wusste, wie man hinter die feindlichen Linien kam, taten andere das sicher auch.
»Danke«, sagte er, als sie fertig war, und bewegte vorsichtig
die Finger. »Was haben deine Freunde dazu gesagt, dass du das Trionfi-Spiel fortgegeben hast?«
»Sie haben gesagt, dass sie dasselbe getan hätten.«
»Obwohl du sie gefährdet hast?«
»Ob die Türken nun allein über die Mauern kommen oder meinetwegen darunter durch ist ihnen ziemlich egal. Sie wissen, dass ich alles versucht hätte, sie mit zu retten.«
»Das spricht von Vertrauen«, sagte Lucas erstaunt.
»Ja. Wir sind eben füreinander da.«
»Obwohl manche von euch … anders sind?«
Madelin sah auf, und als sie sah, dass der Student offenbar Franziskus meinte, zog sie überrascht die Brauen hoch. Nur wenige erkannten, dass der Ikonenmaler einen Blick für Männer hatte, der doch für Frauen bestimmt sein sollte. Man sprach nicht über diese Dinge, die die Kirche als Sünde verteufelte. »Gerade deswegen, Lucas. Wir sind alle nicht das, was die feinen Bürgersleute als normal ansehen.«
Lucas zögerte kurz, dann nickte er. »Ich möchte auch für dich da sein«, sagte er dann leise.
»Ja, ich weiß«, erwiderte sie tief berührt. Er hatte sie immer so angenommen, wie sie war - und ihre Freunde auch. »Das bist du.«
Madelin legte das Tuch beiseite, das sie noch immer in Händen hielt, und trat an ihn heran. Sie sah ihm in die Augen, und ihr wurde ganz leicht ums Herz, ganz warm. Mit ihm zusammen wirkte keine Sorge so groß, dass man sie nicht bezwingen könnte. »Wo waren wir vorhin?«, fragte sie neckend. Dann legte sie die Hände wieder auf seine Wangen, spürte die rauen Stoppeln auf seiner Haut, fuhr ihm durch das Haar. Sie wollte ihn sich für die Ewigkeit bewahren, wollte ihn nie wieder loslassen.
»Hier, glaube ich«, sagte Lucas mit dunkler Stimme. Er stand
auf und hob sie hoch. Er trug sie durch die Kammer zu ihrem Lager und ließ sie dort herunter, um sie hungrig zu küssen. Seine Hände fuhren voll Verlangen über ihren Körper, lösten die Schlaufen ihres Rockes, ihrer Bluse. Endlich
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