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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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wieder zu den Freiwilligen gesellt hatte, die unter der Erde nach Minen des Feindes suchten. Doch er hatte nichts gesagt, sondern ihn mit einem stummen Nicken willkommen geheißen, ihn hier herübergeführt und begonnen, ihn in die Gänge einzuweisen, die sie in den letzten Tagen gegraben hatten.
    »Sie haben für heute etwas vor, das wissen wir. Es liegt in der Luft«, sagte der Zimmermann. »Sie haben von mehreren
Punkten aus Laufgräben gegraben. Diese verzweigen sich vor den Mauern, so dass sie an verschiedenen Orten aussteigen und beinahe ungesehen an den Wall unterhalb der Mauer herankönnen. Wir glauben allerdings, dass sie auch mindestens einen tiefen Gang haben, der unter dem Graben hindurchführt.« Er winkte nach Osten. »Auf der Seite des Kärntner Tores haben Trupps von einem anderen Keller aus zur Mauer gegraben. Aber das Finden der Minen ist nicht so einfach. Deshalb gibt’s jetzt ein großes Loch in der Mauer«, sagte er. »Dort drüben ist am meisten Trubel. Sie haben so oft versucht, das Kärntner Tor in die Luft zu sprengen, dass ich aufgehört habe zu zählen. Seit vorgestern haben sie sich dann mehr und mehr auf die Mauer und die weiter dahinter liegenden Ziele konzentriert. Die Burg zum Beispiel. Wer weiß, was sie noch alles in die Luft sprengen wollen. Verdammt sollen sie sein, die Ungläubigen!«
    »Ja«, murmelte Lucas. Der Zimmermann war erstaunlich gesprächig. »Was soll ich tun?«
    Georg Hofer musterte ihn im trüben Licht der Laternen, die sie beide trugen. »Wir haben überall Wassereimer aufgestellt, um Bewegungen erkennen zu können, um zu sehen, ob jemand kommt. Das Problem ist, dass auch Detonationen und Kanonenschüsse solche Beben auslösen. Mein Vater hat gesagt, du hast die besten Ohren von uns allen. Ich würde sagen, wir suchen uns den verheißungsvollsten Gang aus und kriechen hinein. Wir können jede Ablösung gebrauchen. Und du siehst zu, ob du etwas mitbekommst.«
    »In Ordnung. Welchen Gang nehmen wir?«
    Hofer sah sich um. »Sie waren dort und dort«, er deutete nach Süden und Osten. »Wenn ich raten wollte, würde ich sagen, dass sie wohl von einer Seite angreifen, mit der wir nicht rechnen.«

    »Also von Westen?«
    »Gen Westen«, bestätigte er.
    Der Zimmermann schulterte Wasserflasche, Schwert und leere Erdsäcke. Dann nahm er seine Laterne wieder auf und ließ Lucas den Vortritt. Der schnallte sein Schwert ab, griff sich die Arkebuse und atmete tief ein, bevor er in den Gang hinterherkroch.
    Vorgestern, als er nach Hofer gegraben hatte, war ihm die Enge gar nicht so aufgefallen. Jetzt schienen sämtliche Geräusche dumpfer, die Luft feuchter, das Licht der Laterne weniger ergiebig. Hatte das Herz des Studenten vorhin ängstlich schneller geklopft, schien es nun seinen Brustkorb sprengen zu wollen. Der dunkle Gang wollte sich schier in sich drehen, erschien Lucas gar wie eine Wand. Oder wie ein lebendes Ding, das dort auf ihn lauerte und nur darauf wartete, dass er sich tiefer in seine Eingeweide hineinbegab - an einen Ort, an dem er bei einem neuerlichen Einsturz für immer eingeschlossen wäre; ohne Rückweg, ohne Licht, ohne Luft …
    Lucas schloss die Augen und zählte bis zehn. Dabei rief er sich den Duft von Madelins Haut ins Gedächtnis, ihr Lachen, den verführerischen Augenaufschlag unter den dunklen Wimpern … Und tatsächlich, langsam beruhigte er sich ein wenig.
    Es war unnötig zu fragen, ob der Gang sicher war - er war so stabil wie jeder andere auch. Lucas würde versuchen müssen, die Furcht vor der Dunkelheit zu meistern. Dass Hofer in der Nähe war, empfand er nur teilweise als Trost. Der Mann verstopfte den Gang hinter Lucas wie ein Pfropfen.
    »Geht’s weiter?«, fragte Georg hinter ihm.
    »Ja, doch«, murmelte Lucas und folgte dem Gang weiter unter die Stadt Wien hinein.
    Kurz darauf musste er sich bereits an einer Verengung vorbeidrücken. Die Grabenden hatten offenbar versucht, tiefer zu
gelangen, als der Keller gestattete, und sich dabei nicht bemüht, einen stetig abfallenden Gang zu schaffen. Stattdessen hatten sie einfach ein zwei Fuß tiefes Loch in den Boden gegraben und den Gang von dort ab angeschrägt. Das bedeutete, dass Lucas, die Lampe in den Fingern, die Arkebuse vor sich herschiebend, kopfüber schräg nach unten vorankriechen musste. Ihm brach der Schweiß aus, als sich die lange Waffe verkantete. Er zog und zerrte daran, bis er sie endlich wieder freigerüttelt bekam.
    Die Schwärze um ihn herum wurde undurchdringlich.

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