Die Schicksalsleserin
sank. »Er ist also doch besessen.«
»Das würde dir sicher jeder Priester sagen. Ich meine, dass
eine Krankheit viele Ursachen haben kann. Und das mag auch eine Besessenheit sein.«
»Das bedeutet einen Exorzismus, Hunger, vielleicht Geißelungen … Ich habe gehört, dass manche eine Austreibung nicht überlebt haben.« Beklommen musterte die Wahrsagerin den schlafenden Freund. »Aber er hat sich so gar nicht verändert. Er ist derselbe liebe und umsorgende Franziskus wie schon immer!«
Lucas seufzte. »Vielleicht steckt es auch schon immer in ihm. Madelin, es gibt so vieles über den menschlichen Körper und die Seele, was wir noch nicht wissen. Auch Krankheiten des Geistes oder des Gemütes haben oft körperliche Ursachen, die auf einer fehlerhaften Mischung der Säfte im Gehirn basieren. Wenn es etwas gäbe, was die Anfälle veranlasst …«
In Madelin reifte ein Entschluss heran. Wenn Franziskus besessen war, dann hatte sich die Kreatur, die in ihm wohnte, noch nicht gegen seine Freunde - oder irgendjemanden sonst - gewandt. Sie war ein Teil von ihm. Das konnte auch so bleiben. »Man muss ihn aber auch nicht exorzieren, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Lucas. »Aber die Anfälle kommen doch nicht immer hinter verschlossenen Türen, oder? Irgendwann wird das jemand mitbekommen, der euch nicht freundlich gesonnen ist … Und wenn das der Fall ist, dann beschränkt sich die Hatz selten nur auf den einen Sonderling.«
»Das mag schon sein«, erwiderte Madelin. »Aber ich kann ihn dem auch nicht willentlich aussetzen. Gestern Nachmittag, nach der zweiten Sprengladung«, fuhr sie fort, »als die Mine mit einem solchen Donner hochging, dass man es bestimmt bis Krems gehört hat, da war es so schlimm, dass ich dachte, ich verliere ihn.« Sie sagte es schlicht und unverziert und hörte ihre Stimme unter dem Schrecken beben, den diese Vorstellung bei ihr verursacht hatte. »Ich könnte das nicht ertragen,
Lucas.« Der Student antwortete nicht. Madelin sah zu ihm hinüber. Er starrte ins Leere. »Lucas?«
»Natürlich!«, rief er dann aus. »Das wäre möglich …«
»Was?«
»Gestern Morgen, gegen neun, war der erste Anfall, sagtest du?«
»Ja.«
»Und der zweite am Nachmittag zur dritten Stunde?«
»Ich schätze schon, ja?«
»Wann kam der allererste?«
»Der allererste? Wir haben doch schon herausgefunden, dass die Anfälle nicht zu einer bestimmten Tageszeit auftreten …«
»Wann kam der erste Anfall, den du je beobachtet hast?«
Madelin erinnerte sich noch gut. »Es war draußen, eine laue Nacht bei Pressburg. Wir haben in der Nähe des Hangbaumes gelagert«, erzählte sie. »Wir waren abgelenkt wegen der Mühle. Da ist es dann passiert …«
»Was für eine Mühle?«, fragte Lucas. »Was war damit?«
»Sie ist explodiert. Wie eine Mine. Es war ein schlimmer Krach. Gott allein weiß, was der Müller dort für teuflische Dinge angestellt hat.« Allerdings stand im Zentrum der Freunde nach Franziskus’ erstem Anfall nicht mehr der Schrecken, sondern die Sorge um ihn.
Lucas lächelte über das ganze Gesicht. »Wie eine Arkebuse, die im Zimmer nebenan abgefeuert wird.«
Madelin hielt den Atem an. »Du meinst …«
»Es ist der Krach. Der Donner. Die Explosionen. Sie verursachen möglicherweise eine ganz ähnliche Reaktion im Innern wie die Mine im Boden. Seine Anfälle sind eine Reaktion auf das Getöse.«
Madelin dachte nach. »Nein - das kann nicht sein. Als wir auf dem Stephansturm waren, da wurde geschossen, und er
hatte keinen Anfall. Und auch die letzten Tage mit all den Kanonenschüssen …«
Lucas legte die Stirn in Falten. »Hm, dann mag es an Furcht und Bedrohung liegen, die mit solchen Erlebnissen einhergehen, weniger am Krach.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine mich zu erinnern, dass ein Gelehrter namens Hohenheim - Aureolus Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim - über die Valentinskrankheit geschrieben hat. Er sagte, oft käme es vor, dass dieselbe Ursache, die in der Erde ein Beben verursache, im Menschen dasselbe verursachen könnte - ein Beben. Vielleicht leidet Franziskus, weil das ganze Land momentan leidet.«
»Das heißt, die Fallsucht hat natürliche Gründe? Und sie geht wieder weg, wenn Frieden ist?« Vor Freude blinzelte Madelin ein paar Tränen weg.
Lucas wog nachdenklich den Kopf hin und her. »Ich denke, die Gründe sind natürlich. Ich weiß nicht, ob die Priester das auch so sehen würden. Aber ich habe an der Universität gelernt, dass
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