Die Schicksalsleserin
Scharfrichter eingeschüchtert - sicher. Aber es ist nicht nur wichtig, dass er das konnte, sondern vielmehr, warum er das getan hat. Franzl, ich glaube, er hat mich vor ihm geschützt!«
»Hat er dich auch geschützt, als er dir mit vorgehaltenem Messer die Karten abnehmen wollte?«, fragte der Freund trocken.
»Er wollte bloß die Karten.«
»Das kannst’ nicht wissen. Vielleicht wollte er erst die Karten und dann dein Leben.«
Madelin band sich ein Tuch um den Kopf, um ihre Haare zu bändigen. »Möglich. Aber da war noch mehr. Der Aussätzige kannte Annas Namen, meinen echten Namen und unser Verwandtschaftsverhältnis.«
»Vielleicht hat der Osmane ihm das gesagt, der es wiederum von Anna wusste?«
»Ich glaube das nicht - so vertraut miteinander schienen sie nicht zu sein. Er musste immer noch hier, in Wien, die Verbindung mit mir knüpfen. Und das konnte er nur über jemanden …«
»… der deine Familie gut kennt?«, beendete Franziskus ihren Satz.
»Ja. Und zwar sehr gut!«
Plötzlich erinnerte sich Madelin daran, wie vertraut ihr der Mann mit dem Löwengesicht vorgekommen war - sie hatte ihn nicht zuordnen können, hatte nicht gewusst, woher sie ihn hätte kennen können. Doch Tatsache war, dass sie bei ihrem kurzen Besuch im Haus der Mutter, als die Magd sie an der Tür abgewiesen hatte, ganz kurz eine Männerstimme gehört hatte, die ebenso rau und heiser geklungen hatte, wie die seine.
»Franzl! Der Aussätzige arbeitet für meine Mutter!«, stieß sie aus. »Ich habe ihn in ihrem Haus gehört. Und früher … Ich glaube, er hat auch früher schon Mutters Drecksarbeit gemacht. Er heißt Ludo.«
»Bist du sicher?«, fragte Franziskus besorgt.
»Ich habe eine vage Erinnerung an einen Mann - er hat aber dunkelbraunes Haar gehabt und sah nicht so alt aus. Vielleicht hat ihn die Krankheit verunstaltet. Aber die Stimme …« Sie versuchte sich zu erinnern. »Ich weiß es nicht genau. Die Stimme könnte dieselbe sein.«
Franziskus musterte sie eindringlich. »In Ordnung. Es ist möglich, dass deine Mutter der Schlüssel zu allem ist. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde ihr einen Besuch abstatten.«
»Sei bitte vorsichtig, Madelin«, bat der Ikonenmaler. »Sie ist zwar deine Mutter, aber wenn sie wirklich die Auftraggeberin der Karten ist, dann hat sie Wien an die Türken verraten - und dich mit hineingezogen.«
»Ja.« Der Gedanke, dass ihre Mutter die Spionin für den Feind war, war bereits entsetzlich genug. Aber würde sie ihrer Tochter etwas antun? Madelin konnte darauf keine klare Antwort geben, und das bedrückte sie. Sie sah zum verschlossenen Fenster hinüber. Noch drang kein Sonnenlicht durch die Ritzen. »Ich warte noch, bis einer der anderen zurückkommt.«
»Geh schon«, bat Franziskus.
»Nein. Der Sturm kann jederzeit wieder anfangen. Und ich will nicht, dass du dir etwas tust, während ich weg bin. Erisbert muss bald kommen.« Sie setzte sich zu Franziskus auf das Lager und legte die Arme um ihn. Er lehnte sich bei ihr an.
»Störrisches Weibsbild«, sagte er zärtlich.
»Wenn es um dich geht, immer«, murmelte sie.
Draußen schob sich die Sonne langsam über den Horizont. Der Morgen des vierzehnten Oktober begann zu dämmern. An diesem Morgen würde mehr als eine Entscheidung gefällt werden, das konnte Madelin spüren. Der Wandel lag in der Luft.
KAPITEL 25
M uffiger Geruch drang Lucas entgegen. Die Kerze in der Laterne, die er in der Hand hielt, flackerte und rußte gegen die Wand aus geölter Pergamenthaut. Das bisschen Licht, das sie spendete, war nicht geeignet, den schmalen, dunklen Gang vor ihm weniger beängstigend erscheinen zu lassen oder gar sein klopfendes Herz zu beruhigen.
Draußen dämmerte gerade der neue Tag, der vielleicht für das Wien, wie er es kannte, der letzte sein würde. Im Keller eines Schusterhauses bei Sankt Katharina herrschte ein Kommen und Gehen. Das Haus, das beim Schweinemarkt stand, war geeignet für die Grabungsarbeiten der Männer im westlichen Teil des Kärntner Viertels, da es nahe des Versammlungsplatzes vor der Burg und Sankt Michael lag, der wahrscheinlich ein Ziel war - und außerdem konnte man hier schnell mehr Hilfskräfte zum Graben herbeiholen. Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass es genau in dem Gebiet lag, das mit Kanonenkugeln beschossen und mit Minen untergraben wurde: Es war der Bereich, auf den sämtliche großen Angriffe der Osmanen gerichtet waren.
Georg Hofer war überrascht gewesen, als Lucas sich
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