Die Schicksalsleserin
Osmanen sich mit dem Angriff vorhin zum ersten Mal vor der Stadt hatten blickenlassen. Als sich unter den Flüchtlingen herumsprach, dass die Attacke nur von einer Vorhut geführt worden war, die mittlerweile wieder den Rückzug angetreten hatte, beruhigte sich die Stimmung in der Niklasvorstadt wieder. Die Kürassiere, die noch reiten konnten, zogen langsam ab, viele Flüchtlinge folgten ihnen ins Stadtinnere. Trotzdem blieben genug Menschen auf der Straße zurück, dass es voll und unübersichtlich blieb. So sehr Madelin vom Bock des Karrens aus auch schaute, sie fand diesen Lucas nicht wieder. Also wendete sie ihre Gedanken erst einmal anderen Dingen zu.
Der Angriff der Osmanen ließ sie mit einem zwiespältigen Gefühl in der Magengegend zurück. Madelin war ein Halbblut, doch von dem osmanischen Vater kannte sie nicht einmal den Namen. Ihre Mutter, Elisabeth von Schaunburg, war in ihrer Jugend einem Janitscharen in die Hände gefallen, das hatten in Wien die Spatzen von den Dächern gepfiffen. Die Folgen - Schwangerschaft, Entehrung und schließlich Zurückweisung - hatten dafür gesorgt, dass das Verlöbnis mit dem jungen Grafen Johann zu Hardegg gelöst worden war. Er hatte statt Elisabeth deren jüngere Schwester Maria geehelicht, um den Vertrag mit der Familie zu erfüllen.
Die Mutter hatte niemals mit Madelin darüber gesprochen, wie die Osmanen sie in ihre Gewalt gebracht hatten, noch was sie hatte erleiden müssen. Doch sie hatte Madelin stets spüren lassen, dass ihre Geburt ihr Leben zerstört hatte. Und wegen des dunklen Haars und den tiefbraunen Augen war das Kind in Wien auch unter Gleichaltrigen stets als Fremde angesehen worden. Nur ihre Schwester Anna war ihr eine Freundin gewesen - wenn sie sich nicht gerade gestritten hatten. Wie sollte das jetzt erst werden?
Franziskus’ Anfall hatte den Fahrenden noch ein paar misstrauische Blicke eingebracht, bevor er endlich abgeebbt war. »Wir passen gut auf ihn auf«, hatte Scheck der jungen Frau versichert, als sie dem Freund die Decke zurechtgezogen hatte. Sie hatte ihm dankbar zugenickt und gesagt: »Ich komme nach, wenn ich mit Anna gesprochen habe. Wir treffen uns bei Sankt Michael, ja?« Dann hatte sie zum Kirchturm von Sankt Anton im Süden der Stadt aufgeblickt und sich auf den Weg gemacht.
Zum Haus Annas musste Madelin in eine der vielen Vorstädte gehen, nämlich die, die im Süden Wiens bei Sankt Anton lag. Sie wollte die Schwester alleine aufsuchen.
Die Sonne war schon fast hinter dem Kahlenberg am westlichen Horizont verschwunden. Es begann zu regnen, und der feuchte Sand knirschte leise unter ihren Füßen. Fröstelnd raffte Madelin ihre Röcke, damit sie nicht noch schmutziger wurden. Die junge Frau folgte der langen Straße durch die Niklasvorstadt. Links klapperten die Mühlen an der Wien, hievten Schaufel über Schaufel Wasser aus dem Fluss und entließen es wieder in den Strom. Nach der Stubenbrücke, die die Wasser der Wien überspannte, ließ sie das Stubentor rechts liegen. Es gewährte Einlass in die eigentliche Stadtmauer, die hier fast zwanzig Fuß hoch aufragte. Die Steine der Befestigungsanlage waren im Lauf der Jahre dunkel geworden.
Entlang der Mauer hatte man den durch die stete Entsorgung von Unrat, Abfall und Gesträuch zugeschütteten Stadtgraben wieder ausgehoben. Er klaffte an den tiefsten Stellen bereits zehn Fuß tief. Madelin staunte, denn selbst jetzt noch machten sich Männer in dem Schacht zu schaffen. Sie hatte den Stadtgraben noch nie so wehrhaft gesehen.
Im Viertel vor dem Stubentor schien sich kaum etwas verändert zu haben - die schlichten Häuser, teils aus Holz, teils aus Fachwerk, sahen noch genauso aus wie in ihrer Kindheit. Hier gab es keinen großen Reichtum, denn bei vielen Bewohnern handelte es sich um Magister oder Gesinde der Universität.
Hinter den Häusern verwandelte sich der Wall entlang der Wien langsam in einen Palisadenzaun und schließlich in einen Faschinenzaun - ein Flechtwerk aus Holzpfählen und Gestrüpp. Am Bürgerspital vorbei kam Madelin in die Vorstadt vor dem Kärntner Tor. Auch hier sah sie sich verwundert um. Vernagelte Türen und Fenster deuteten darauf hin, dass viele Bewohner bereits fort waren. Andere hasteten noch mit Gepäck an ihr vorbei. Madelin versuchte ein-, zweimal, jemanden anzusprechen, doch niemand nahm sich die Zeit für ein Gespräch.
Durch den mit dichtem Weinlaub bewachsenen Brückenturm beim Bürgerspital gelangte die junge Frau aus der Mauer der
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