Die Schicksalsleserin
Heinrich.
Lucas hob das leinerne Pflaster vorsichtig an und erschrak selbst über den starken Blutstrom. Er konnte in der Wunde nichts erkennen - und der dunkle Strom nahm kein Ende. Schnell legte er das Pflaster beiseite und tastete mit zwei Fingern der linken Hand in der Wunde nach dem Geäder. Wenn die Ader nicht geschlossen würde, würde der Mann verbluten. Verödete man sie, würde er nur den Arm verlieren. Als er das Pulsieren spürte, zog er den Finger heraus. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und hielt das Eisen hinein.
Der Geruch von verbranntem Blut und Fleisch stach ihm in die Nase, doch er zog das Eisen erst wieder heraus, als er sich sicher war, dass das Geäder verschlossen war. Der Mann regte sich nicht.
Lucas griff zum Leinen und begann, die Schulter zu verbinden, so gut es ging. »Herzwärts verbinden«, murmelte er zu sich selber, während er die Leinenbahnen anlegte. »Blutzufluss verhindern.«
»Was macht ihr da?«, knurrte plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Du da, Steinkober! Was pfuschst du da an Meister Ansässer herum?«
Lucas reagierte nicht, doch er erkannte wohl die Stimme. Mit zitternden Fingern fuhr er in seiner Arbeit fort. Dann wurde er am Gewand gerissen und auf die Beine hochgezogen. »Das darfst du doch noch gar nicht, Mann!«, raunzte der Mann ihn weiter an. Mit Wilhelm Hofer, dem alten Zimmermann aus dem Kärntnerviertel, pflegten die Studenten eine flammende Feindschaft - oft saßen sie wie er im Gelben Adler am Fleischmarkt.
»Ich muss ihn verbinden!«, brachte Lucas nur hervor und versuchte, den Griff des Mannes an seiner Robe zu lockern. »Er stirbt sonst!« Wilhelm Hofer, der sich selbst die Seite hielt und offenbar auch verwundet war, ließ ihn abrupt los. Lucas torkelte.
Heinrich, dessen Finger am Puls des Mannes in seinem Schoß lagen, wurde blass und sagte: »Das hilft ihm jetzt auch nicht mehr.« Bei diesen Worten heulte die Frau entsetzt auf.
Lucas ließ sich neben dem Zimmermann auf die Knie fallen und griff mit blutbesudelten Fingern wieder nach dem Verbandsleinen. »Ich muss ihn verbinden!«, beharrte er, denn der dunkle Fleck unter dem Stoff wuchs noch immer an.
»Lass ab!« Heinrich hob den Körper von seinem Schoß und legte ihn auf den Boden. »Der Mann ist tot, Lucas!«
»Nein«, stieß der Student aus. Er betrachtete das graue Gesicht des Mannes und legte die Finger auf seinen Hals. Nichts. Kein Blutfluss. »Aber ich habe doch alles richtig gemacht!«
»Er ist trotzdem tot«, beschwor Heinrich ihn. »Du kannst nichts mehr tun.«
Wie betäubt stand Lucas auf und wischte die Finger über die Robe. Er fühlte, wie die kleinen Fäuste der Frau, wohl doch
die Witwe des Zimmermannes, ihn auf der Brust trafen, doch es tat nicht weh. Dann stand Wilhelm Hofer vor ihm, packte ihn und knallte ihn mit dem Rücken gegen die nächstgelegene Hauswand. »Du hast den Ansässer umgebracht«, knurrte er wütend, und sein grau gesträhnter Bart zitterte.
»Aber sonst war doch niemand da«, sagte Lucas mit erstickter Stimme.
»Und da dachtest du, wenn keiner guckt, kannst du mal ein bisschen was ausprobieren, wie? Wegen solcher Schlauberger wie dir hat man verboten, dass ihr Studenten an Leuten herumwerkeln dürft! Weil’s eben um Menschenleben geht!« Hofer spie ihm ins Gesicht, seine Augen funkelten so wütend, dass Lucas dachte, der Mann würde ihn hier und jetzt totschlagen. Dann raffte der Handwerker den Stoff der Robe auf Lucas’ Brust in einer Hand, griff mit der anderen Heinrich am Arm und zog sie hinter sich her.
»In der Schranne wartet doch schon lange eine Zelle auf euch beide! Wenn Stadtrichter Pernfuß hört, dass der Ansässer wegen euch gestorben ist, wird er sich wünschen, er hätte euch Mörder schon dreimal aus der Stadt verbannt!«
Lucas folgte dem kräftigen Mann ohne Gegenwehr. Nach all der Hektik kehrte in seinem Kopf langsam wieder Ordnung und Ruhe ein. Und damit kam auch die Erkenntnis, dass Hofer Recht hatte. Er hatte mit seinem Übereifer einen Mann getötet. Das schmerzerfüllte Gesicht des sterbenden Handwerkers stand ihm noch vor Augen. Welche Strafe Stadtrichter Pernfuß auch immer für ihn bereithielt, er hatte sie verdient.
KAPITEL 3
N un war Madelin all ihren Eiden zum Trotz doch in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Geburtsstadt , korrigierte sie sich selbst. Wie Heimat hatte Wien sich nie angefühlt.
Trotzdem atmete sie jetzt auf. Sie und ihre Gefährten waren in Sicherheit. Von Umstehenden hatte sie erfahren, dass die
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