Die Schicksalsleserin
Niklasvorstadt, durch die sie gestern die Stadt betreten hatte, brannte. Sie hielt einen Landsknecht an. »Brennen die Osmanen schon die Vorstädte ab?«, fragte sie atemlos.
Der kleine Mann musterte sie erst misstrauisch, dann schüttelte er den Kopf. »Nich’ die Osmanen. Das war der Salm.«
»Der … Graf Salm lässt die Vorstädte abbrennen?«
»Ganz recht.«
»Ja - aber warum denn?«
»Damit die Türken sich nicht dahinter verkriechen können, wenn’se da sind, deshalb natörlich«, erwiderte der Landsknecht langsam, als sei sie schwer von Begriff. »Die Niklasstadt brennt schon, und heute Mittag sind die Kärntner Vorstadt und das Bollwerk um Sankt Anton dran. Da sind überall zu viele Mauern, wir brauchen freies Schussfeld für die Kartaunen und die Singerin…« Doch Madelin hatte genug gehört. Wenn sie die Vorstädte abbrannten, dann blieb nicht mehr viel Zeit. Sie lief zurück und stieg in den Karren des Spielmanns. »Scheck, steh auf«, rief sie und rüttelte auch Erisbert an der Schulter, der auf seinem Lager daneben schlief.
»Was is’n?«, murmelte Scheck.
»Wir müssen die Stadt verlassen«, erklärte sie hastig. »Die Vorstädte werden abgebrannt, die Menschen aus der Stadt geschafft. Ich glaube, wir können nicht in Wien bleiben, bis wir einen Physicus gefunden haben. Scheck …«, die Stimme versagte ihr im Hals, »ich glaube, es wird wirklich schlimm.«
Die beiden Gefährten waren dank dieser Ankündigung schnell hellwach. »Verdammt«, sagte Scheck. »Und was machen wir dann?«
»Es gibt heute vor dem Mittag noch einen bewachten Zug, der aus der Stadt gebracht wird. Schaut beim Schottentor nach, dort muss er hinaus. Ich muss Anna warnen. Sie hat noch nicht einmal gepackt!« Madelin stieg schon wieder aus dem Wagen. »Ich komme euch holen. Geht hier nicht weg, sonst finden wir uns nie wieder!«, rief sie noch. Dann eilte sie die Straße hinunter bis zu Sankt Clara und durch das Burgtor.
Jetzt verstand sie, warum die Vorstädte so beharrlich geleert worden waren. Sogar die Huren aus den beiden städtischen Frauenhäusern hinter Sankt Martin am Wienfluss schien man fortgeschafft zu haben. Die Dirnen mit den gelben Tüchern an der Achsel schreckte sonst nicht viel von ihrer Arbeit ab. In der Kärntner Vorstadt war Madelin vom Laufen ganz außer Atem, und sie verlangsamte den Schritt. Bis zum Mittag blieb genug Zeit, ermahnte sie sich. Sie musste mit der Schwester sprechen und ihr beim Packen der wichtigsten Habseligkeiten helfen.
Als sie endlich vor dem Haus der Ebenrieders angekommen war, zögerte sie. Gestern hatte sie sich im Streit von Anna getrennt. Sie begann schon, sich ihre Worte zurechtzulegen, da erklang eine dünne Knabenstimme. »Willst’ zu meiner Frau Mutter?«
Madelin sah auf. Aus einem seitlichen Kelleraufgang linste ein kleiner, vielleicht fünfjähriger Junge hervor. Er besaß langes blondes Haar und Annas blaugraue Augen. Am Leib trug er einen beinahe armseligen Kittel und oft geflickte, schief hängende Beinkleider.
Der Bursche wartete nicht auf eine Antwort. »Denn wenn du ein Schmuckstück ausgebessert haben willst, dann … dann soll ich sagen, dass wir das nicht machen können.«
»Ich habe kein Schmuckstück, das ich ausbessern lassen könnte«, erwiderte Madelin. »Wie heißt du?«
»Fritzl«, sagte der Kleine einsilbig.
Offenbar hatten Friedrich Ebenrieder und seine Frau Anna ihren Erstgeborenen nach dem Vater benannt. »Ich bin Madelin.«
»Meine Tante heißt so«, sagte der Kleine. »Ich glaube, sie ist tot.«
»Ach«, sagte Madelin betroffen. Doch die Zeit drängte. »Ich muss mit deiner Mutter sprechen, Fritzl. Und vielleicht überlegst
du dir schon mal, was du mitnehmen willst, wenn du weggehen musst.«
Der Junge winkte sie zum Kellereingang herüber. Madelin folgte ihm. Im Untergeschoss herrschte gähnende Leere. Ein hartes metallisches Kreischen ertönte in kurzen unregelmäßigen Abständen, dazu erklang ein rhythmisches Bollern. Der Raum hinter dem Kellerzugang war wohl einmal eine einzige große Kammer gewesen, jetzt trennte ihn eine Holzwand in zwei kleinere. Im ersten sah sie nur zwei leere Kisten und ein paar Säcke Kohlen. In die zweite Kammer führte eine Tür, die mehr an eine Verschlagtür gemahnte. Der Bube riss sie auf und stürmte hinein. Madelin folgte langsamen Schrittes.
In diesem Kellerraum gab es an der einen Seite einen Tisch, auf dem Messer verschiedener Größen lagen. Auf der anderen standen aufgebockte Fässer. Die
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