Die Schicksalsleserin
eine enge Gasse an der alten Judenschule angekommen war, atmete sie erleichtert auf. Dann schlug das Primglöcklein erneut, und sie fluchte. Hatte jemand das Uhrwerk beschleunigt? Den restlichen Weg lief sie. Der Geruch des Rauches aus den Vorstädten wurde hier immer stärker, und bald lag Asche auf dem Kopfsteinpflaster.
Madelin zog sich über die Kirchhofsmauer direkt hinter Sankt Michael, dem Ort, wo sie die Freunde zurückgelassen hatte. Die Wagen waren noch hier, auch wenn die Pferde nicht vorgespannt waren. Erleichtert lief Madelin hinüber und riss die Tür zum Wageninnern auf. »Franziskus, wo bleibt …« Sie hielt im Satz inne, denn hier war niemand. Hastig überprüfte Madelin auch die anderen Karren. Sie waren alle leer. Wo waren die Freunde nur hin?
Ein Anflug von Panik überkam die junge Frau. Wo sollte sie ihre Gefährten suchen? Sie hatten noch nicht einmal einen weiteren Treffpunkt abgemacht, wie sonst immer. Für den Fall, dass etwas geschah, konnte man sich so abseits der Wagen treffen.
Madelin kehrte in ihren eigenen Wagen zurück und ließ die Klappe offen stehen, um ein wenig Licht hereinzulassen. Franziskus hatte ihr ein Porträt der Muttergottes mit dem Jesuskind an die Wand gemalt, auf seiner Seite sah man den leidenden Christus am Kreuz. Zwischen die Wandbilder hatte der Ikonenmaler ein paar Kohleskizzen gehängt, die sie noch nicht kannte. Offenbar war er heute Morgen bereits fleißig gewesen.
Schnell besah Madelin die Papiere - auf einem war Sankt Michael, auf einem anderen hatte er Scheck beim Lautespielen skizziert. Sie erkannte ein gekritzeltes Meer von Landsknechten auf dem Platz vor der Burg sowie im Hintergrund einen rasch niedergelegten Umriss von Sankt Stephan. Enttäuscht ballte sie die Hände zur Faust, als die Panik sich verstärkte. Als wolle das Primglöcklein sie daran erinnern, dass die Zeit drängte, schlug es die nächste Viertelstunde an. Da sie keine Mitteilung oder Nachricht entdeckte, wandte sie sich niedergeschlagen zum Ausgang.
Madelin öffnete die Tür ganz und sah noch einmal zurück, wie um zu prüfen, dass sie nichts übersehen hatte. Ihr Schatten verdunkelte den Innenraum. Zumindest fast vollständig - der einzige helle Fleck, der noch blieb, war das Bild von Sankt Stephan, das am Kopfende über Franziskus’ Lager hing. Das brachte sie auf eine Idee. Alle anderen Bilder zeigten Orte in Wien, an denen Franziskus bereits gewesen war. Nur Sankt Stephan fiel aus diesem Schema heraus. Zudem hatte der Freund mit ihr auf den Turm steigen wollen. War das Bild ein Hinweis? Sie war sich nicht sicher, doch einen anderen Anhaltspunkt hatte sie nicht.
Madelin schloss die Tür und machte sich wieder auf den Weg. Sie eilte durch schmale Gassen, überquerte den Graben und ging an Sankt Peter vorbei von Westen her auf den Rossmarkt zu. Hoch aufragende Steinhäuser mit geraden Fassaden signalisierten, dass hier einige der reichsten Bürger wohnten. Das Herz der Stadt war der Bereich, in dem sich Madelin immer am unwohlsten gefühlt hatte. Landsknechte sahen ihr nach, hielten sie aber nicht auf. Schließlich ging sie durch das malerische alte Schlossergassel auf die Magdalenenkappelle zu, die den westlichen Abschluss des Friedhofs bildete, der Sankt Stephan umgab. Nach Norden zu fiel der Blick auf den Heiltumsstuhl, eine überdachte Galerie, die die Straße überbrückte. Von dort oben wurden dem Volk an Feiertagen Reliquien präsentiert.
Madelin atmete tief durch, dann betrat sie den Platz. Im Vergleich zu mancher Dorfkirche wäre die kleine Kapelle Sankt Magdalenen ein prachtvolles Haus gewesen. Vor Sankt Stephan aber wirkte sie schlicht, unauffällig und vor allem klein. Das steile Dach des Doms war mit kunstvollen geometrischen Mustern geschmückt. Ein Holzkran auf dem Nordturm, der hinter dem Dach aufragte, markierte seinen unfertigen Zustand. Der Südturm wirkte daneben unbegreiflich hoch.
Madelin betrat das Gräberfeld durch das Zinnertor. Der Friedhof besaß vier Pforten, die in verschiedene, eigens ummauerte Abschnitte führten - zum Beispiel gab es einen Studentenbühel und einen Fürstenhügel. Sie trat nun auf den Gräberhügel am Karner, den man so nannte, weil unter Sankt Magdalenen ein Gebeinhaus eingerichtet war, in das man die Knochen der Beigesetzten nach einer Weile umschichtete, um Platz für neue Gräber zu erhalten.
Die Wolken ließen die Sonnenstrahlen des späten Septembertages nur spärlich auf die Grabkreuze aus Stein und Holz
fallen. Wohin
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