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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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wandte sich ab.
    Madelin bekreuzigte sich und wünschte ihm stumm Glück. Mit einem plötzlichen Anflug von Bedauern erkannte sie, dass sie ihn vermutlich nie wiedersehen würde. »Lucas?«, rief sie ihm nach.
    Er hielt inne und sah über die Schulter zurück. »Was denn?«
    »Wenn die Stadt doch schon verloren ist, warum bleibst du nun wirklich hier?«
    Ihre Blicke trafen sich. »Weil ein Kampf nur dann bereits verloren ist, wenn man sich nicht getraut, ihn anzugehen.« Madelin verstand - deshalb ließ er sie gehen, um ihre Freunde zu finden. Sie nickte dankbar. Dann verschwand er in der Menge.
    »Komm«, sagte Madelin und zog die Schwester hinter sich her. Doch die wehrte sich. »Was ist?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Anna. »Vielleicht hattest du Recht. Vielleicht sollte ich mit dem Zug mitziehen.«
    »Willst du gehen, nur weil Hardegg es befiehlt?«
    »Nein, weil er auch Mutter hinausschaffen würde, wenn er könnte. Wenn es wirklich so schlimm steht, Madelin … die Kinder! Ich will nicht, dass ihnen etwas geschieht.«
    Madelin hob abwehrend die Hände. »Ich werde dir das nicht ausreden, Anna. Zu fliehen ist sicher die beste Entscheidung. Aber ich muss die anderen suchen. Ich bin bald wieder da.«
    »Geh nicht«, bat Fritzl und hielt sie am Rock fest.
    »Wirst du uns denn wiederfinden, wenn du jetzt gehst?«, fragte die Schwester verzagt.
    »Wenn ihr mir nicht weglauft«, erwiderte Madelin und zog den Stoff aus der Hand des Jungen. »Ich komme wieder. Und wir ziehen dann ja immerhin im selben Zug. Da werden wir einander schon wiederfinden, wenn nur das Gedränge vorbei ist!«

    »Aber was, wenn du uns verpasst?«
    »All die Leute brauchen doch sicher eine Ewigkeit, bis sie durch das Tor sind. Außerdem haben wir dann die Wagen. Dann müssen die Kinder nicht die ganze Strecke laufen und du auch nicht.« Madelin nahm die Schwester und den Jungen gleichermaßen herzlich in den Arm. »Ich bin wieder da, bevor ihr aufbrecht.«
    »Beeil dich«, flüsterte Anna mit erstickter Stimme und erwiderte die Umarmung fest. Auch Fritzl wollte sie gar nicht mehr loslassen.
    Madelin nickte bloß und löste sich aus dem Griff der beiden. Dann schob sie sich zwischen die Leiber der nebenstehenden Personen. Sie rempelte einen Mann in ihrem Alter an, der eine Studentenrobe oder etwas Ähnliches trug, aus wertvollem Stoff geschneidert. »Pass doch auf, wo du hintrittst, Frau«, sagte er.
    »Das tue ich«, murmelte Madelin und schob sich weiter, trotz der Proteste, die von allen Seiten auf sie einhagelten. Sie beschloss, bei Sankt Michael zu suchen. Jetzt war sie froh, dass sie Wien so gut kannte. Sie drängte sich mühsam bis zum Rand durch und sah sich um. Am Ende des Platzes bei den Schotten sorgten Reiter in einer lockeren Reihe dafür, dass die Menge nicht in die Gassen ausuferte. Dort verlief das ehemalige Bett des Baches, durch das Madelin gestern in die Stadt gelangt war; heute eine Straße, die man Tiefer Graben nannte, weil sie sich gen Norden hin tief einschnitt.
    Als Madelin die Reiter abgelenkt wähnte, lief sie in den Tiefen Graben hinein und kletterte dann rechter Hand die Böschung zu einer Hofdurchfahrt hinauf. Hier presste sie sich in eine Türöffnung und hielt mit klopfendem Herzen inne. Langsames Hufgeklapper auf dem Kopfsteinpflaster ließ sie erstarren. Konnte man sie hier entdecken? Sie wusste es nicht.

    Madelin wollte bis zwanzig zählen, um sich zu beruhigen. Doch bei der Sieben verharrte der Hufschlag, und sie vergaß das Zählen. Hatte der Mann sie entdeckt? Wenige Herzschläge später ertönten die Hufeschläge ganz nah, unterhalb der Böschung. Madelin sperrte die Ohren auf und lauschte. Das Geräusch des vorbeiziehenden Pferdes entfernte sich! Sie atmete erleichtert aus. Ein paar Augenblicke wartete sie noch, bevor sie zurück in den Tiefen Graben lugte. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie spitzte zum Platz Am Hof, der von einigen der prachtvollsten mehrstöckigen Steingebäuden und Kirchen gesäumt war. Der riesige Platz war voller Bewaffneter, doch sie musste hoffen, dass sie hier, da sie nun einmal aus dem Pulk der Flüchtlinge heraus war, nicht auffallen würde.
    Madelin zwang sich dazu, langsamen Schrittes aus dem Eingang des Hauses auf den Platz Am Hof hinauszugehen. Sie hielt den Blick auf ihre Fußspitzen gerichtet, um den lagernden Landsknechten ausweichen zu können, ihnen aber nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Männer pfiffen ihr hinterher, doch sie ignorierte es. Erst als sie durch

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