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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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sollte sie sich wenden? Sie griff an die Ledertasche am Gürtel, um eine Karte blind zu ziehen, die ihr vielleicht den Weg weisen würde. Erst als sie die Leere in dem Lederfach fühlte, wurde ihr der Verlust der Karten noch einmal schmerzlich bewusst.
    »Madelin? Bist du das?«
    Hinter der Ecke von Sankt Magdalenen standen Scheck und Erisbert. Madelin flog erst dem Spielmann, dann dem Tinkturenverkäufer um den Hals. »Da seid ihr ja! Warum seid ihr denn bloß nicht zum Schottentor gekommen? Wo sind die anderen?«
    »Weil die Osmanen schon die Vorstädte abbrennen, Madelin! Und wir haben doch versprochen, auf dich zu warten. Dann haben Soldaten versucht, uns zu ergreifen, und wir sind hierhergeflohen. Miro und Franzl sind den Turm hinauf, um sich ein Bild zu machen«, sagte Scheck und deutete zum Südturm hoch.
    »Aber nein!«, rief Madelin. »Die Wiener haben die Vorstädte selbst abgebrannt, die Osmanen sind noch nicht da! Wir müssen zum Schottentor, und zwar schnell! Das ist die letzte Gelegenheit, aus der Stadt zu kommen!«
    Der Lautenspieler starrte sie entgeistert an. »Das soll nun einer ahnen! Wir haben gedacht, der Feind sei längst da und der Zug könnte gar nicht mehr aus der Stadt.«
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte Madelin. »Los, zurück nach Sankt Michael!«
    »Dauert es nicht zu lange, die Wagen anzuspannen?«, warf Erisbert ein. »Wir können froh sein, wenn wir unsere Haut retten können!«
    »Die Karren zurücklassen?«, fragte Scheck zweifelnd.
    »Franziskus und die Kinder können jedenfalls nicht den ganzen Weg laufen«, stellte Madelin fest.

    »Dann sollten wir uns wirklich sputen«, sagte Erisbert. Und wieder schlug das Primglöcklein eine Viertelstunde an.
    »Die Zeit rennt uns davon«, sagte Madelin betroffen. »Wo habt ihr die Pferde?«
    »In einem Haus bei den Wagen untergestellt. Wir hatten Angst, jemand nimmt sie uns weg«, sagte Erisbert.
    »Ich gehe Franzl und Miro holen.« Sie lief über den Friedhof und ließ das Primglöckleintor, durch das man das Seitenschiff des Doms durch den Südturm betrat, links liegen. Stattdessen eilte sie eine kurze Treppe hoch, die sich außen an den Turm schmiegte. Oben traf sie im Schatten der Mauern auf eine niedrige Tür. Sie schlüpfte hinein und sah in den halbdunklen Treppenaufgang hoch. Sie war in ihrer Kindheit einmal auf den Südturm gestiegen und wusste, wie anstrengend das war. Trotzdem machte sie sich eilends auf den Weg.
    Doch kaum hatte sie zwei Dutzend Stufen genommen, hörte sie ein Keuchen von oben. »Franzl?«, rief sie hinauf.
    »Madelin?« Franziskus’ Stimme klang dünn. »Wir kommen schon!«, schnaufte Miro. Und tatsächlich, einige Augenblicke später konnte sie die beiden Freunde in die Arme schließen.
    »Die Osmanen stehen in den Vorstädten«, sagte Franziskus. Er rang um Atem, der Aufstieg hatte ihn offenbar erschöpft. »Alles brennt!«
    »Nein, das waren die Wiener!«, erklärte Madelin ein weiteres Mal.
    »Und was für Reiter ziehen im Süden entlang?«
    »Vielleicht ist Graf Hardegg ausgeritten?«, fragte Madelin. »Wie auch immer, wir müssen los.«
    Die fünf Gaukler eilten durch die Straßen Wiens zurück zu den Wagen. »Ich hol die Pferde!« Erisbert lief zu einem der vernagelten Gebäude hinter Sankt Michael.
    Miro zog seinen Bären in den Käfig auf dem Karren, während
Scheck und Madelin die Geschirre vorbereiteten. Doch die Wahrsagerin wurde das nagende Gefühl nicht los, dass die Zeit knapp wurde. Drei Viertelstunden waren angeschlagen worden, seit sie Anna verlassen hatte. Ein paar Augenblicke später, als Erisbert mit den Tieren zurückkam und Madelin sie mit geübten Fingern einspannte, schlug erst das Primglöcklein, dann die Glocken von Sankt Michael sowie den anderen Kirchen zur vollen Stunde. Elf mal insgesamt.
    »Elf Uhr! Der Zug sollte bereits um zehn abziehen!«, rief die Wahrsagerin.
    »Schneller geht’s nun wirklich nicht, Kind«, erwiderte Erisbert schnaufend. »Wir können den alten Rössern keine Flügel anheften, weißt du?«
    Sie arbeiteten schweigend weiter. Doch als sie sich auf die Böcke der Karren schwangen und die ausgeruhten Mären anziehen ließen, da schlug das Glöcklein bereits die nächste Viertelstunde an. In Madelins Brust zog sich etwas zusammen - sie war in großer Sorge um Anna und die Kinder. Beharrlich schob sie diese Gefühle weg, um sich auf die Abfahrt zu konzentrieren.
    Sie ließen die Pferde die schmale Hochstraße hinauftraben, die ganz im Schatten der hohen Häuser

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