Die Schicksalsleserin
abgerissen, das nun den Weg direkt in sein Versteck wies? Der Student begann zu zittern und malte sich aus, was die Osmanen wohl mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn erwischten. Vielleicht würden sie ihn ermorden oder versklaven. Aber die meisten anderen Männer hatten sie auch erschossen - ob sie nur Frauen und Kinder versklavten? Die waren sicher willfähriger als ausgewachsene Männer. Heinrich zwang sich, die Augen zu schließen und bis zwanzig zu zählen, um sich zu beruhigen. Wenn er jetzt die Beherrschung verlor, wäre es ganz sicher sein Todesurteil.
Trotzdem sprang Heinrich beinahe auf, als er nahe vor sich eine Stimme hörte. Eine zweite antwortete ebenso leise wie die erste. Heinrich verstand nicht, was gesagt wurde, doch offenbar wollten die Männer nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er stellte sich vor, wie er mit dem Boden verschmolz. Herr, Gott, dachte er. Lass mich leben.
Ein Schrei hinter ihm ließ Heinrich zusammenzucken. Die Reiter trieben ihre Pferde mit kurzem Jagdruf in einen großen
Satz voran und galoppierten an dem Gebüsch vorbei, in dem Heinrich kauerte. Nun stieß er den angehaltenen Atem leise wieder aus. Er hatte es geschafft! Die beiden hatten ihn nicht gesehen.
Langsam schob Heinrich sich voran und versuchte, sich aus den Dornen zu befreien. Er bewegte sich gen Waldrand in die Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war. Dort rutschte er in eine Mulde. Hier, wo die Gefahr ursprünglich begonnen hatte, würden die Osmanen hoffentlich am wenigsten nach ihm suchen.
Als er in der Ferne Schreie hörte, sah er vorsichtig auf. Auf dem Feld standen mehrere Pferde reiterlos in der Landschaft. Ein kleines Kind schrie, ein anderes schluchzte, und eine Frau versuchte sich zu wehren, während ein Mann auf ihr lag und ein anderer ihren Oberkörper zu Boden drückte. Ein kräftiger Schlag ließ sie schließlich verstummen.
Heinrich betrachtete das Spektakel und erkannte an der Kleidung, dass es sich um Anna handelte, die er kurz vor dem Angriff im Flüchtlingszug getroffen hatte. Er ballte die Fäuste, denn er konnte nichts tun. Selbst wenn er sich entschied, einzugreifen, musste er es mit fünf ausgebildeten Kämpfern aufnehmen. Nein, er konnte nur hoffen, dass die Osmanen Anna nicht noch lange leiden ließen. Doch er konnte die Hilflosigkeit im Angesicht solcher Gewalt kaum ertragen.
Nachdem der letzte der Gruppe der Osmanen sich an der Frau vergangen hatte, zerrten sie sie auf die Füße und warfen sie über ein Pferd. Die Reiter saßen auf und ließen das Kind zurück. Es fing schrecklich an zu schreien und lief los, um nicht zurückzubleiben. Die Gruppe entfernte sich langsam, der Junge lief weinend hinterher. Irgendwann verschwanden sie aus seinem Blickfeld.
Heinrich zu Hardegg ließ noch viele osmanische Reiter an
sich vorbeiziehen, eine Herde von Gefangenen vor sich hertreibend. Er wurde Zeuge einer Jagd auf einen fliehenden Mann, der versuchte, einen der Reiter von seinem Pferd zu reißen. Von Pfeilen gespickt blieb er auf der Weide liegen.
Stille fiel über das Land, und irgendwann wurde es dunkel. Und als die Sonne gänzlich hinter dem westlichen Horizont versunken war, wagte Heinrich sich endlich heraus. Er fror, war hungrig und schrecklich müde. Er durchsuchte die Leichen nach etwas Nahrhaftem, denn er hatte den Großteil seines Gepäcks verloren. Viele Taschen waren zwar bereits gefleddert worden, doch Heinrich fand einen Beutel mit einem halben Laib Brot bei einer toten Magd; bei einem Knecht gar einen voll getrockneter Pflaumen. Ein Schlauch mit einem Schluck Wein vervollständigte seinen Reiseproviant.
Dann plante Heinrich die nächsten Schritte. Er hatte einen weiten Weg vor sich und war schutzlos. Zwar hatte er gelernt, mit seinem Schwert umzugehen, doch er war kein Soldat. Kurz erwog er, zurück in die sicheren Mauern Wiens zu fliehen. Sein Vater würde sicher wissen wollen, dass der Zug überfallen worden war. Doch wenn die Osmanen es schon bis hierher geschafft hatten, war der Weg nach Wien hinein sicher längst abgeriegelt.
Nein, er würde weiter nach Krems gehen. Dorthin hatte sich auch Erzherzog Ferdinand zurückgezogen. Er konnte dem Erzherzog von dem Überfall berichten. Vielleicht würde der Truppen schicken, um die Menschen zu befreien.
Heinrich schritt aus, in der Hoffnung, noch andere Flüchtlinge zu finden. Der Weg abseits der Straße war uneben und beschwerlich, doch auf die Straße traute er sich nicht. Heinrich seufzte und kämpfte
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