Die Schicksalsleserin
auch noch andere Menschen verborgen. Doch auch diese ergriffen die Flucht. »Hilfe!«
Dann waren alle fort.
Als Anna sich wieder aufgerappelt hatte, traf sie etwas hart in den Rücken und warf sie erneut in den Dreck. Die Reiter holten sie ein und schnitten sie von der Baumgruppe ab. Dann zügelten die Männer die Pferde und kehrten um. Sie kamen direkt auf Anna zu.
»Nein!«, schrie die Frau. Sie raffte Fritzls kleinen Körper an sich. Die Kinder weinten, und Anna liefen die Tränen hinunter, während sie gleichzeitig um ihr Leben schrie. »Nein!«
Doch die Reiter ließen wieder unbarmherzig Lederschnüre auf sie heruntersausen.
Anna wollte aufstehen, wollte weiterrennen. Doch die schmerzenden Hiebe bissen tief in ihre Haut und sie spürte, wie warmes Blut über ihre Arme und ihre Schulter lief. Sie schrie auf und vergrub Fritzls Kopf und Gesicht in ihren Armen. Er sollte nichts spüren. Ihn würde sie schützen. Sie konnte nur beten, dass die Striemen Elisabeth nicht trafen. Sie rollte sich herum, um das kleine Kind mit dem Leib zu schützen, dabei schob sie Fritzl unter ihre Seite und entblößte den Reitern ihren Bauch.
Einige Schläge später brach Anna auf der Wiese zu einem schluchzenden Bündel zusammen. Keine Stelle an ihrem Leib schien unberührt von Schmerzen, und sie wagte nicht mehr, sich zu rühren. Ihre Kehle war rau, und ihre Stimme versagte.
Doch was auch immer sie bislang erduldet hatte, Anna wusste, dass die wahre Pein erst noch beginnen würde, wenn die Männer von ihren Pferden stiegen.
Die Leute flohen durch den kleinen Wald wie aufgescheuchte Hühner. Rufe und Schreie erklangen, und die Galoppsprünge von Pferden erschütterten den Boden. Die Reiter umkreisten das Wäldchen, als wären sie auf der Pirsch. Auf einer Seite gab es Lärm, die Menschen wechselten die Richtung und flohen
panisch, rannten sogar auf die Weiden hinaus. Heinrich erkannte das Muster und schluckte nervös. Dies war kein Kampf, es war eine Hatz. Und er selbst gehörte zur Beute.
Heinrich hatte im Leben noch nicht so viel Angst gehabt wie jetzt. Sie überschwemmte ihn wie eine Flutwelle und vernebelte seinen Kopf, so dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Doch er konnte die Angst jetzt nicht brauchen. Was er brauchte, war eine rettende Idee.
Von links krachte etwas durch das Unterholz - ein Pferd brach in das Gehölz. Heinrich duckte sich und lief gebückt in die Gegenrichtung, weg von dem Osmanen, da der die Schlinge enger zog. Eine Bürgersfrau und ein Knecht liefen an ihm vorbei. Der Knecht fiel von einem Pfeil getroffen, ein keuchendes Gurgeln drang aus seiner Kehle. Die Bürgersfrau schrie und lief aus dem Wald heraus. Das Beben von Pferdehufen und weitere Schreie verrieten Heinrich, dass sie ein Opfer der Türken geworden war.
Denk nach!, befahl Heinrich sich und verbarg sich zwischen ein paar Büschen. Das Wäldchen war nicht sehr groß, so dass er sich hier vermutlich nicht ewig verstecken konnte. Er rieb sich die Schläfen und blinzelte den Schweiß fort, der ihm in die Augenwinkel lief. Sein Problem war, dass er innerhalb des Kreises saß, der vom Feind immer enger gezogen wurde. Er wusste nicht, wie viele Osmanen hier waren, doch es waren sicher ausreichend, um die ganze Gegend abzusuchen. Aus dem Wald herauszutreten, war auch keine Option. Er musste bleiben und zusehen, dass man ihn nicht fand. Wenn er in den Bereich gelangen könnte, den die Angreifer schon durchsucht hatten, wäre er sicher. Um das zu schaffen, musste er an seinen Feinden vorbei. Die Angst lähmte ihn beinahe. Der einzige hilfreiche Gedanke gegen die Starre war, dass er sterben würde, wenn er blieb, wo er war.
Also kroch Heinrich vorwärts, aus dem Gebüsch heraus. Er erhob sich und lief geduckt ins nächste Dickicht, das aus Brombeeren und Brennnesseln bestand. Dort angelangt, sah er sich um. Sein Herz schlug so laut, dass er dachte, man müsste es bis Wien hören.
Als ein Hufschlag auf dem weichen Waldboden in seiner Nähe erklang, warf Heinrich sich tiefer in Deckung, ohne sich um die Sträucher um ihn herum zu kümmern. Die Dornen rissen ihm lange Striemen an Hals und Armen sowie im Gesicht auf. Heinrich spürte das Blut tropfen, doch der Schmerz blieb aus. Vermutlich würde er später kommen.
Er hielt den Atem an. Die Schritte eines Pferdes drangen, obwohl vom Waldboden gedämpft, deutlich an sein Ohr. Es musste ganz nahe sein. Ob er Spuren hinterlassen hatte? Hatten die Dornen ein Stück seiner Kleidung
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