Die Schicksalsleserin
sich voran. Bereits nach einer Meile musste er pausieren.
Wie es wohl seinem Freund Lucas ging? Immerhin hatte der
es in Wien warm und trocken, und er wusste sechs Fuß breite Mauern um sich herum. Doch die Sorgen überwogen. Heinrich fragte sich, ob er mit Lucas jemals wieder die Weinstuben Wiens unsicher machen würde, wenn das alles vorbei war - und die Stadt dann noch stand.
KAPITEL 8
D ie Feuer in den Vorstädten wüteten und schwelten fast zwei Tage lang. Die Brände waren dank der Gräben und des Wetters nicht auf die Häuser der Innenstadt übergesprungen, doch der beständige Rauch in der Luft kratzte den verbliebenen Bürgern in den Hälsen, biss ihnen in den Augen und überzog Häuser, Straßen und Kleider mit schwarz-grauer Asche. Als sich die Rauchwolken am Abend des sechsundzwanzigsten September gelegt hatten und an diesem Morgen, dem siebenundzwanzigsten Tag des Monats, ganz ausblieben, atmeten die Menschen in Wien erleichtert auf.
Bloß wenige Stunden vergingen, bis neue Rauchschwaden die Luft erfüllten. Dieses Mal kamen sie unerwarteterweise von der Donau her. Der auf dem Stephansturm eingerichtete Ausguck steckte die roten Brandfahnen gen Norden aus. Die Feuer lagen außerhalb der Mauern, so dass man nicht löschen konnte. Der Regen verschleierte nur den Qualm, ohne die Brandherde zu ersticken.
Beobachter auf den Mauern bei Werder- und Rotenturm berichteten später, eine Flotte türkischer Schiffe sei auf dem Donauarm gen Stadt gesegelt und habe Massen von Soldaten an Land gespieen. Sie eroberten die Auen der Leopoldsvorstadt auf dem UnterenWerd und setzten sämtliche Brücken in Brand, die nach Norden über die Donau führten. Damit war Wien von allen Versorgungswegen abgeschnitten.
Madelin hatte in dieser Nacht übel geschlafen, doch das hatte mit dem Rauch nichts zu tun gehabt. Bohrender Hunger hatte sie wach gehalten, mehr noch die Sorgen um die Zukunft
und die Freunde, allen voran Franziskus. Der hatte zwar in den zwei Tagen, die seit dem Anmarsch der Osmanen vergangen waren, keinen Anfall mehr gehabt, doch Madelin ahnte, dass das nur eine Frage der Zeit war. Auf der anderen Seite, dachte sie nun bitter, da die ersten Sonnenstrahlen über den östlichen Horizont krochen, war der Zustand des Freundes nicht mehr wichtig, wenn er jetzt und hier eh verhungerte. Denn die Reserven der kleinen Gauklertruppe waren in den beiden vergangenen Tagen völlig aufgebraucht worden.
Natürlich hatte Scheck mit seinen Liedern versucht, etwas Geld zu verdienen, doch so gerne sich die Landsknechte und Soldaten in diesen Zeiten erheitern ließen, umso geiziger waren sie doch im Geben. Sie hielten ihre Reichtümer zusammen, vermutlich weil sie wussten, dass die Preise für Lebensmittel in einer belagerten Stadt schnell ins Unermessliche stiegen. Erisbert und Miro hatten versucht, ihr Scherflein zum Verdienst beizutragen, waren jedoch ebenfalls wenig erfolgreich gewesen.
So blickte Madelin nun einem Tag entgegen, an dem sie nicht wusste, wie sie ihren und Franziskus’ Bauch füllen sollte. In den langen Stunden, die sie sich schlaflos auf ihrem Lager gewälzt hatte, hatte sie darüber nachgedacht, ob sie zur Mutter gehen sollte, um sie um Hilfe zu bitten. Doch sie wollte der Frau nicht unter die Augen treten, die sie damals aus Wien fortgetrieben hatte. Sie erinnerte sich noch immer lebhaft an die Worte, die damals ausgesprochen worden waren, als sei es gestern erst geschehen.
Madelin hatte sich am Tag der Hochzeit ihrer Schwester mit Friedrich Ebenrieder bei der Mutter darüber beklagt, dass sie vor ihr, der Erstgeborenen, vor den Altar trat. »Stell dich nicht so an, Madelin«, hatte die Mutter kühl gesagt. »Wenn Anna wartet, bis du in den Stand der Ehe getreten bist, bekomme ich euch ja beide nie aus dem Haus!«
Madelin war jegliche Antwort im Halse stecken geblieben. »Ihr geht davon aus, dass ich niemals heiraten werde?«, hatte sie schließlich zu fragen gewagt.
»Du bist eine Halbtürkin, die in Schande geboren wurde. Glaubst du ernsthaft, Ebenrieder hätte dich genommen? Oder jemand anderes?«
Madelin hatte sich an Ebenrieders Blick erinnert, an den schmeichelhaften Vergleich mit der Nacht, den er gemacht hatte. Sie hatte gedacht, dass die Schwester ihr mit dem Goldschmied den einzigen Mann weggeschnappt hatte, der sie aus dem Haus der Mutter hätte wegführen können. Sie erinnerte sich noch heute an den Schmerz der Erkenntnis, dass sie sich entweder ewig von der Mutter herumscheuchen lassen
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