Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
Gewand wurde dem Henkersmann übergeben, der es wie eine Schleife um den Sack band.
    Der Scharfrichter, in dunkles Leder gekleidet, sah genauso aus, wie Madelin sich einen Henker vorstellte. Er war groß und hielt sich ein wenig gebeugt, als seien die Schultern zu schwer für das breite Kreuz. Der Rücken ging in einen Stiernacken über. Das Haupt musste vor ein paar Tagen kahlgeschoren worden sein; jetzt überzogen dunkle Stoppeln Kopf und Kinn. Er betrachtete die Welt mit kleinen, hastig umherflitzenden Augen.
    Madelin erschauerte. Früher als Kind hatte die Amme oft Geschichten über den Henkersmann erzählt. Meist hatte es sich dabei um üble Drohungen gehandelt. Hatte Madelin nicht zu Bett gehen wollen, käme der Henkersmann, um sie zu strafen. Hatte sie eine Regel gebrochen, käme der Henkersmann
beim nächsten Mal, um sie zu holen. War Madelin wütend oder trotzig gewesen, hatte die Amme gedroht, dass ihr der Scharfrichter den Stolz aus dem Leibe prügeln würde. Viele Ammen und Mütter warnten ihre Bälger vor dem Henkersmann, und das nicht nur zu Wien. Wer die Lebensspanne so vieler Menschen gewaltsam verkürzte, drohte, den Unmut ihrer wütenden Seelen auf sich zu laden.
    Doch die Kinder von Wien waren nicht die Einzigen, die den Henker mieden. Jeder Mensch mit ein bisschen Verstand im Leibe machte um den unreinen Mann und seine Familie einen weiten Bogen. Man erzählte sich, er habe eine Kindmörderin vor dem Tod gerettet, indem er sie zur Frau nahm. Blut und Schädel gerichteter Verbrecher nutzte er, um Heiltinkturen und Amulette herzustellen, die er dann an Verzweifelte verkaufte. Die Zauberkunst des Mannes, der mit dem Tod handelte, wurde groß eingeschätzt.
    »Bist’ doch aus dem Frauenhaus an der Wien, oder?« Der Bürger war näher an sie herangetreten und griff nun nach Madelins Arm. »Jemand wie du in einer Stadt voller Kerle - das lohnt sich doch sicher!« Er wollte sie schon zu sich heranziehen, doch Madelin entwand sich seinem Griff.
    »Schleich dich!«, fauchte sie. »Ich bin keine Freie Frau.« In Städten wie Wien bezeichnete man mit dem Begriff eine Hure.
    »Was bist’ dann?«, fragte er abfällig.
    Die Wahrsagerin zog sich das Tuch fester um die Schultern. Erkannte er, dass Madelins Haut dunkler war als die seine? Sah er ihren braunen Augen ihr osmanisches Erbe an? Jedenfalls schien der Mann sie mit Blicken zu verschlingen. »Ich gehöre zu einer Gruppe Fahrender.« Madelin wollte ihm nicht mitteilen, wo sie lagerten - auch wenn er sich das selbst zusammenreimen konnte, wenn er nur einen kurzen Gang die Treppe hinauf tat.

    »Fahrende, wie?« Der Glubschäugige trat noch näher. »Ich habe noch nie davon gehört, dass ein ordentliches Gericht einen Mann dafür verurteilt hätte, dass er eine Fahrende willfährig gemacht hat.« Er lächelte jetzt. »Du stellst dich bloß an, was? Willst den Preis hochtreiben?«
    »Ich gebe mich nicht für Geld zu eigen«, erwiderte Madelin brüsk. »Ich sage die Zukunft voraus. Wir haben auch einen Bärenführer und Knochenbrecher. Er hat genug Muskeln für drei von Euch Wienern. Soll er Euch eine Kostprobe geben?« Die Drohung war leicht dahingesagt - Madelin wusste, dass Miro keinen Augenblick zögern würde, sie zu erfüllen.
    »Ein Spielmann, der sich gegen einen Bürger Wiens wendet?« Jetzt lachte der Kerl. »Ich muss bloß rumschreien, dein Freund hätte mein Weib falsch angeschaut. Dann wird er dort landen, wo die Osmanen gerade hingehen.«
    Madelin funkelte den Mann an. »Und wer sagt dir, dass ich dir nicht einen Fluch anwünsche, wenn du das tust?« Viele Menschen glaubten, dass Fahrende zauberkundig waren und Heil- sowie Fluchkünste beherrschten. Und wer wusste schon, ob das nicht stimmte, wenn sie es nur ernst genug damit meinte? Sie begegnete seinem Blick herausfordernd. Es dauerte drei lange Herzschläge, dann trat der Mann mit den Glubschaugen einen Schritt zurück.
    »Schon gut«, sagte er und hob abwehrend die Hand. Sein Lächeln war bloß noch eine Maske. »Ich dachte nur, du wolltest dir vielleicht etwas dazuverdienen. Das Essen ist teuer geworden, und du siehst ein wenig hohlwangig aus.«
    »Natürlich. Du wolltest mir bloß helfen«, sagte Madelin. »Vergiss es.« Natürlich brauchte sie Geld, doch sie würde nicht anfangen, ihren Körper dafür zu verkaufen. Unweigerlich wanderte ihre Hand zu der leeren Ledertasche am Gürtel. Sie fragte
sich, ob sie sich ihren Stolz wohl noch lange würde leisten können, oder ob sie besser gleich

Weitere Kostenlose Bücher