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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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oder in einem Konvent Betschwester werden musste. Beide Aussichten fühlten sich an, als würde man sie lebendig begraben.
    Die Mutter hatte ihr auf die Schulter geklopft, als sei das alles nicht so schlimm. »Viele Mädchen gehen ins Kloster, weil sie nicht verheiratbar sind, also gräm dich nicht. Und wenn Anna jetzt den Ebenrieder heiratet, machst du ein glückliches Gesicht, ja?«
    Madelin erinnerte sich ganz deutlich an diesen Augenblick. Sie hatte bloß stumm dagesessen und die Mutter angestarrt, während ihr die Tränen aus den Augen geflossen waren. Sie hatte darum gerungen, nicht zu schluchzen, sondern ihre Sprache wiederzugewinnen. Als ihr das gelungen war, hatte sie mit heiserer Stimme geflüstert: »Ich weiß, Ihr hasst mich, Mutter. Wenn Ihr wolltet, dass ich Euch auch hasse, ist Euch das jetzt gelungen.«
    Die Mutter war erbleicht und hatte kalt erwidert: »Schleich dich, Madelin. Geh! Ich will dich in der Kirche nicht sehen - und auf dem Schmaus auch nicht. Sieh zu, dass du fortkommst, sonst vergesse ich mich noch.«

    Madelin war damals ins Haus der Mutter gegangen und hatte für eine Weile ganz reglos dagesessen. Irgendwann war sie in den leeren Kammern zusammengebrochen und hatte nicht mehr aufhören können zu weinen. Dann war die Wut gekommen. Der Gedanke, wie die Mutter sie sah - wie die Gesellschaft von Wien sie sehen musste - als Schande, als Makel, hatte sie einen grimmigen Entschluss fassen lassen. Das Haus nur verlassen, um in ein Kloster einzutreten? Sie dachte nicht daran. Madelin hatte gewusst, nach diesen Worten könnte sie der Mutter nie wieder unter die Augen treten. Sie hatte deren altes Trionfi-Spiel an sich genommen und ein paar Sachen gepackt. Dann war sie auf und davon und hatte nicht zurückgeblickt.
    Madelin erhob sich nun von ihrem Lager, als das erste Sonnenlicht gegen die trüben Wolken am Himmel ankämpfte, und ging mit schweren Gliedmaßen hinaus zum Brunnen, um sich zu waschen. Diese Stadt brachte die schlimmsten Erinnerungen zurück. Nein, sie konnte sich nicht dazu durchringen, zur Mutter zu gehen.
    Zunächst kümmerte sich die junge Frau um die Pferde, die unter dem Regen litten und genau wie ihre Herren auf schmale Rationen gesetzt worden waren. Das machte sie unleidig. Die Fahrende versuchte, dem mit ausgiebigem Striegeln zu begegnen, doch sie wusste, dass der Hunger der Tiere früher oder später gestillt werden musste - so wie ihr eigener.
    Den einzigen Lichtblick stellte momentan Lucas dar. Der Student, der bei den Gerichtsknechten aushalf, war in den letzten beiden Tagen stets nach seinem Dienst vorbeigekommen und hatte Madelin und ihre Freunde mit allen Mitteln dabei unterstützt, sich hier bei Sankt Ruprecht einzurichten. Der junge Mann mit dem blonden Haar war das einzig Beständige, das Wien ihr bislang geboten hatte, und sie spürte, wie ihr ganz warm wurde, wenn sie an ihn dachte. Die Hoffnung, dass er sie
auch heute besuchen würde, zauberte ihr unwillkürlich ein Lächeln aufs Gesicht.
    Als Madelin wenig später ihrem Gaul die Hufe säuberte, schreckten sie Schreie auf. Vom Fluss her johlte und kreischte es, als sei der Teufel unter die Leute gefahren. Madelin ließ alles liegen und stehen und eilte vor die Kirche, doch auf dem Kienmarkt war alles ruhig. Franziskus kletterte erst aus dem Wagen und sah sie fragend an. Als das Geschrei wieder anhob, lief Madelin um die Kirche herum, zum Flussufer im Norden.
    Den Ruprechtssteig hinunter erkannte sie eine Gruppe von Landsknechten und Männern der Stadtwache. Zwischen sich schleiften sie einen Mann, der kaum noch laufen konnte und an Brust und Rücken von blutigen Wunden überzogen war. Zunächst dachte Madelin, sie wollten einem Verwundeten beistehen, doch als sie näher hinsah, erkannte sie, in welch erbärmlichem Zustand der Mann war.
    Mehrere Wunden im Gesicht des Mannes schwärten bereits, offenbar hatte man ihm den Bart mitsamt der Haut darunter abgesengt. Der Kopf war mit einer Klinge so grob geschoren worden, dass Teile der Kopfhaut fehlten. Die Wunden auf dem Oberkörper stammten von glühenden Eisen und stachelbewehrten Peitschen, und sämtliche Finger sowie die Knochen des Unterarms schienen gebrochen zu sein. Selbiges galt für die Füße, die nur noch eine blutige Masse waren. Der Mann war gefoltert worden.
    Andere Gerichtsknechte zerrten drei weitere Gefangene herbei. Sie sahen nur wenig besser aus als der erste, konnten sich aber noch wehren. Manche kreischten in den höchsten Tönen der

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