Die Schicksalsleserin
Töpfen der Fahrenden immer weniger geworden war, und nun wünschte er sich, er könnte irgendetwas tun, um ihr zu helfen.
Die meisten Menschen priesen die Heiligen ja nicht mehr, doch in der Universität wäre der heutige Tag trotzdem mit viel Eifer zu Ehren von Sankt Cosmas und Damian, den Patronen der Ärzte, begangen worden. Lucas ging seine vormittägliche Patrouille alleine ab. Er hatte darauf bestanden, obwohl Stadtrichter Pernfuß Gift und Galle gespuckt hatte. Doch der Student hatte ihm klarmachen können, dass entweder Hofer oder er selbst vom nächsten gemeinsamen Gang nicht zurückkehren würden.
Als er seinen Dienst in der Schranne beendete, war er durch den Dauerregen nass bis auf die Knochen. Trotzdem musste er noch einen Gang für Stadtrichter Pernfuß tun. Lucas hatte vorgeschlagen, sich nach einem besseren Plan der Stadt umzuschauen, und war deshalb zum Kartenmaler Woffenberger gesandt worden, der trotz der Belagerung in der Stadt geblieben war. Der Student eilte über das Lugeck bei den Fleischbänken hinüber ins Stubenviertel. Woffenbergers Haus lag in der Gasse gegenüber der Universität.
Die Werkstatt wirkte trocken und hell - heller, als man bei dem Wetter vermuten mochte, denn sie besaß zwei ungewöhnlich große vergitterte Fenster zur Straße. Abgesehen davon herrschte im Innern ein entsetzliches Chaos.
Die linke Seite des Raumes war von einem Regal verdeckt. Ein Großteil des Inhaltes an Pergament- und Papierrollen war auf vier verschiedene Kisten verteilt worden. Auf der rechten fand sich ein Regal, in dem ein Durcheinander aus Werkzeugen, Glasfässchen und Farbpaletten herrschte, doch auch hier
waren die kostbarsten Utensilien und Farbbeutel eilig, so schien es, in Truhen verstaut worden. Im hinteren Bereich fand sich ein Tisch vor einem ledernen Vorhang, vor dem zwei große Pulte standen und hinter dem es vermutlich in den Wohnbereich des Hauses ging.
Woffenberger selbst hob gerade den Ledervorhang an und eilte in die Werkstatt, in der Hand eine weitere leere Kiste. Der runde alte Mann besaß kaum noch Haar oben auf dem Kopf - einzig ein Kranz weißer Borsten an den Seiten und am Hinterkopf bedeckte seinen Schädel. Er trug ein paar Augengläser. Der Bart an Oberlippen und Wangen war ebenfalls weiß, die Haut darunter vor Hektik gerötet. Er schwitzte, obwohl es nicht kalt war.
»Meister Woffenberger?«
Der dicke Kartenmaler schnaufte angestrengt und sah auf. »Ja, was ist denn?«, fragte er gehetzt.
»Lucas Steinkober mein Name. Ich soll für den Stadtrichter Pernfuß fragen, ob Ihr einen guten Plan der Stadt Wien besitzt, den er verwenden kann.«
Der Alte hielt inne und starrte Lucas einen Augenblick lang an. Lag Misstrauen in seinem Blick? Zweifel? Angst? Der Student konnte den Ausdruck schwer deuten. »Nein«, schnaufte er schließlich. »So etwas besitze ich nicht.«
»Das ist schlecht. Wir brauchen einen guten Überblick über die Stadt, um sie besser schützen zu können.«
»Tut mir leid, Junge«, erwiderte der Kartenmaler gehetzt. »Vielleicht schaust’ in der Bibliothek nach.«
»In der Bibliothek der Universität? Ja, das wäre der nächste Ort, an dem ich suchen würde.«
Woffenberger eilte zu einem Regal und stopfte erst einzelne Farbbeutel nacheinander in die mitgebrachte Kiste. Dann schob er den ganzen Haufen aus lauter Ungeduld grob mit dem Arm
aus dem Regal. Einer der Beutel fiel zu Boden und ergoss seinen ockerfarbenen Inhalt auf die Holzdielen. »Mist, verdammter!«, fluchte der Mann. Doch er hielt sich nicht damit auf, den Beutel aufzuheben.
Lucas trat näher. »Habt Ihr es eilig, Meister?«
»Sicher doch«, keuchte der Mann. »Die Osmanen stehen vor der Tür. Ich will nicht, dass meine Sachen abfackeln, wenn jemand die Stadt anzündet. Also werde ich die Kisten in den Keller bringen und alles gut abschließen. Und das Wertvollste werde ich hoffentlich irgendwie mitnehmen können.«
»Mitnehmen?«, fragte Lucas erstaunt. »Ihr könnt die Stadt nicht mehr verlassen, wir werden belagert!«
Der Ledervorhang am anderen Ende des Raumes wurde zurückgeschlagen, und ein junger Mann, vermutlich der Lehrling von MeisterWoffenberger, trat in den Raum. Grobschlächtig war kein Ausdruck, der ausreichend war, um dessen Gestalt zu beschreiben. Der Kopf ging beinahe ansatzlos in die Schultern über, die so breit waren, dass der Oberkörper wie ein Dreieck auf der Hüfte zu sitzen schien. Die Arme waren lang und schlaksig, die Hände ähnelten mehr Schaufeln als
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